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Der Abend schleicht sich in die Wohnung wie eine Katze: leise, fast unbemerkt. Draußen werden die Lichter schwächer. Ich sitze auf dem Sofa, in eine Decke gewickelt, mit einem Glas Wein und meinem Laptop auf den Knien. Ich versuche mich abzulenken: Ich lese Artikel, scrolle durch Ausstellungsankündigungen, checke meine E-Mails. Aber meine Gedanken kreisen trotzdem um dasselbe. Um ihn. Um Li Yan. Und natürlich um die Schlangen. Und um diese seltsamen, berauschenden Worte in dem Brief.
Das Spiel. Neunundneunzig Nächte. Das ist alles Wahnsinn. Und gleichzeitig wie ein Magnet.
Es klingelt an der Tür. Ich springe auf. Wein schwappt auf die Decke und die Armlehne. Ich fauche wie eine Katze, aber dann ist alles gut. Ich gehe zur Tür und öffne sie.
Auf der Schwelle steht ein Kurier. Ein junger Mann in dunkler Uniform ohne Logo. In seinen Händen hält er einen Karton. Wieder schwarz. Matt. Ich frage nicht, wer der Absender ist. Das ist nicht nötig.
„Frau Smirnova?“
„Ja.“
„Das ist für Sie. Eine Unterschrift ist nicht erforderlich. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“
Er geht schnell weg. Ich schließe die Tür und stehe mit dem Karton mitten im Flur, als würde ich nicht ein Paket halten, sondern die Büchse der Pandora.
Vorsichtig nehme ich den Deckel ab. Darin befindet sich eine Mappe. Aus Leder, glatt und mit einem geprägten Ouroboros in der unteren Ecke. Und darin ... ein Vertrag.
Das Papier fühlt sich dick an und ist elfenbeinfarben. Die Tinte ist tiefschwarz. Aus irgendeinem Grund achte ich auf jeden noch so kleinen Detail. Alles ist typografisch gedruckt, ohne einen einzigen Fehler. Wie in teuren juristischen Verträgen zwischen Museen. Nur dass es hier um etwas ganz anderes geht.
„Über den Beitritt zum privaten Kunstprojekt „99 Nächte“
Vertragsparteien: „Kurator des Kunstprojekts „99 Nächte“ Li Yang, im Folgenden als „Kurator“ bezeichnet, und Smirnova Inga Valerievna, im Folgenden als „Teilnehmerin“ bezeichnet.
Gegenstand der Vereinbarung:
„Der Kurator lädt die Teilnehmerin ein, an einer performativen Veranstaltungsreihe teilzunehmen, die Elemente der bildenden Kunst, körperlicher Erfahrung, symbolischer Ritualität und konzeptueller Spiele vereint.“
Meine Kehle wird trocken, ich trinke mein Glas Wein aus und lese weiter:
Teilnahmezeitraum: „Ab dem Zeitpunkt der Unterzeichnung bis zum Ablauf von 99 Nächten oder vorzeitigem Ausscheiden auf Wunsch einer der Parteien“.
Grundlegende Bedingungen:
„Die Teilnehmerin verpflichtet sich:
– keine detaillierten Fragen zur Person des Kurators, seiner Herkunft, seiner Biografie oder seinen Absichten zu stellen;
– keine Versuche zu unternehmen, ohne Erlaubnis seine äußere Identität festzustellen;
– die Vertraulichkeit der im Rahmen des Projekts stattfindenden Ereignisse zu wahren.
Der Teilnehmerin wird empfohlen:
– sich nicht zu verlieben. (Diese Bedingung ist kursiv unterstrichen und mit einem kleinen Schlangensymbol in der Ecke der Seite versehen),
– jedes Treffen wird mit einer Belohnung vergütet,
– Die Bonusoptionen umfassen unter anderem: Empfehlungen für professionelle Galerien und Kuratoren, Teilnahme an geschlossenen Kunstveranstaltungen, Möglichkeiten zur Veröffentlichung und Förderung als Kunstkritikerin.
Ein Ausstieg ist jederzeit möglich. Dazu reicht es aus, den Codewort laut auszusprechen: „Ich steige aus dem Spiel aus.“ Danach wird der Kontakt ohne Folgen beendet.
Mit dem Ablegen der Maske als Zeichen der Zustimmung bestätigt die Teilnehmerin ihre Einwilligung.
Ich lese die Zeilen immer wieder. Keine Nötigung. Völlige Freiheit. Nur nicht fragen, sich nicht verlieben und keine Erklärungen suchen.
Dafür bekomme ich neunundneunzig Nächte. Mit ihm. Mit mir. Mit etwas ... das ich noch nicht einmal zu benennen wage. Und die Summe ist so hoch, dass ... oh, wenn ich dieses Geld hätte, könnte ich ein Tierheim für streunende Katzen bauen, von dem ich schon seit Jahren träume.
In der Tasche des Ordners liegt ein Pergamentumschlag. Darauf ist wieder die Schlange, und darin eine Karte.
„Das erste Treffen ist vereinbart. Zeit und Ort werden morgen früh bekannt gegeben. Bereite die Maske vor. Bereite dich vor.
Kunst beginnt mit dem Verlangen.“
Ich schließe die Augen. Und mir wird klar, dass die Entscheidung bereits gefallen ist. Ich werfe den Vertrag nicht weg. Ich zerreiße ihn nicht. Ich gebe ihn nicht zurück. Ich sage nicht, dass ich aus dem Spiel aussteige.
Ich schließe die Mappe. Ich nehme die Maske und lege sie neben mein Bett. Dann lege ich mich hin und starre lange an die Decke. Ich kann nicht schlafen.
Denn in mir scheint alles zu leuchten. Weil in meiner Brust eine Schlange liegt, die sich zu einem Ring zusammengerollt hat, lebendig, heiß und sehr, sehr hungrig. Und dann träume ich einen Traum, den ich niemandem erzählen kann, weil er mir peinlich ist.
Am Morgen sitze ich in der Küche, als wäre ich in einem Gerichtssaal.
Vor mir auf dem Tisch liegt der Vertrag. Die schwarzen Buchstaben starren mich an. Ein schrecklicher Vergleich, aber so ist es. Der Ordner ist aufgeklappt und strahlt eine Wärme aus: klebrig, gierig und fast sinnlich.
Ich versuche, meinen Avocado-Toast zu essen, trinke Kaffee, aber alles schmeckt fade. Denn in mir pulsiert alles, wie vor einem Sprung von einer Brücke. Oder in den Abgrund. Oder in die Liebe.
Das Telefon klingelt und holt mich zurück in die Realität.
„Hallo, meine Geheimnisvolle“, sagt Rita fröhlich, „erzähl mal. Vertrag? Bedingungen? Geld? Sex für einen Tag? Was gibt's Neues?“
Ich schweige. Ich schweige einfach. Ich schaue auf den Tisch, als wollte ich dort etwas Neues entdecken.
„Inga? Inga-a-a-a!“
„Er ... hat mir den Vertrag geschickt.“
„Oh. Und?“
„Es sind neunundneunzig Nächte. Sich nicht verlieben. Nicht fragen. Für jedes Treffen gibt es eine Belohnung. Für Fantasien gibt es Boni.“
„Ist das so eine Art BDSM-Start-up?“, spottet Rita. „Oder ist er einfach ein Genie der Selbstvermarktung?“
Ich antworte nicht.
„Inga, du denkst doch ernsthaft darüber nach, oder?“
Ich nicke, merke dann aber, dass sie mich nicht sehen kann, und antworte hastig:
„Ja, Rita. Ich denke darüber nach. Sehr ernsthaft.“
Auf der anderen Seite entsteht eine Pause. Dann sagt meine Freundin fast flüsternd:
„Ist dir eigentlich klar, was du da tust? Das ist kein Briefroman. Das ist die Realität. Ein Mann, den du nicht kennst. Ein Spiel, das dir ins Bett und in die Seele kriecht. Inga, was, wenn er verrückt ist?“
„Vielleicht ist er verrückt. Aber ...“ „Ich schaue mir den Vertrag an. Ich habe keine Angst. Nichts, was mich hemmt. Ich fühle mich, als hätte man mir einen Funken unter die Haut gespritzt. Und der ... brennt.“
„Du warst schon immer zu empfindlich für Symbole“, schnaubt Rita.
„Und für hohe Wangenknochen. Vor allem, wenn sie dazu noch eine Stimme wie ein verdammter Sexsymbol haben.“
Ich lächele und lache dann:
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich verlieben kann, aber ich bin mir sicher, dass ich das durchstehen kann. Ich möchte sehen, wie weit ich gehen kann. Was ich... noch kann.“
Rita seufzt.
„Du bist verrückt.“
„Vielleicht.“
„Ich liebe dich.“
„Ich weiß.“
„Dann, verdammt noch mal, schreib mir einfach. Verschwinde nicht.“
„Ich verspreche es.“
Sie legt auf, und ich bin allein. Mit dem Vertrag, dem Stift und ... mir selbst.
Ich nehme die Maske wieder und drehe sie zum Licht. Innen ist sie mit schwarzem Samt gefüttert. Ich fahre mit dem Finger über den Rand. Über die Wange. Über die Aussparungen für die Augen.
Dann hole ich den Stift heraus. Ich atme laut aus, wie vor der Beichte. Oder wie vor dem ersten Kuss. Ich unterschreibe. Mein Name ist schön, fast kalligraphisch, als wäre es ein Brief an die Zukunft. Inga Smirnova. Datum. Uhrzeit. Unterschrift.
Ich zittere nicht. Nein. Das ist keine Angst. Das ist Begeisterung. Sie bricht aus mir hervor, als würde ich eine Höhle betreten, in die noch niemand zuvor getreten ist. Und sie pulsiert mit etwas Größerem als einem Geheimnis. Und dort wartet mit Sicherheit ein Schatz auf mich.
Ich schließe den Ordner. Die Maske lege ich in eine Schachtel und stelle diese auf das Regal. Ich drehe mich zum Spiegel.
„Alles“, flüstere ich. „Willkommen im Spiel, Inga.“
Und in meinem Spiegelbild scheint mir für einen Moment, als gleite ein Schattenschlange hinter meiner Schulter entlang.
