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5

Er kommt um Mitternacht. Pünktlich. Ohne anzurufen. Ohne Vorwarnung.

Ich stehe am Fenster und spüre, wie sich die Luft verändert. Es wird stiller. Wie im Theater, kurz bevor das Licht ausgeht. Ich höre Schritte. Li Yang beeilt sich nicht. Die Welt scheint sich ihm anzupassen und verstummt.

Die Tür ist nicht verschlossen – wie befohlen. Ich habe nicht gefragt, wie er hereinkommen wird. Er ist Teil des Spiels. Und die Regeln stehen bereits fest.

Ich bin selbst in dieses luxuriöse Hotel gekommen, das dem Namen nach der Familie Li gehört.

Er erscheint in der Tür meines Wohnzimmers, und es kommt mir vor, als käme er nicht vom Treppenabsatz, sondern aus einem anderen Raum: dunkel, weich und in Samt gehüllt. Er trägt eine Maske. Eine unglaubliche Maske aus schwarzem Stoff, die sein Gesicht bis zu den Wangenknochen verdeckt. Nur sein Mund ist offen. Diese Lippen, geschaffen für die Sünde. Und seine Augen, wahnsinnig tiefe Augen, in denen ich von der ersten Sekunde an versinke.

Er trägt ein schwarzes Hemd, das einen Knopf offen ist, eine schwarze Hose und Handschuhe. Er sieht aus wie die Verkörperung von Stil und Kraft. Wie ein Gemälde aus dem Barock, in dem die Nacht selbst lebt. Die Handschuhe sind übrigens nicht neu. Hat hier jemand einen Fetisch, Herr Lee?

„Guten Abend, Inga“, seine Stimme umhüllt mich. Kein einziges überflüssiges Wort.

Ich nicke, wage es nicht, etwas zu sagen. Ein Schauer der Vorfreude durchläuft meinen Körper. Und von der Art, wie er mich ansieht. Als wäre ich nicht nur eine Frau, sondern die ganze Handlung, der Sinn und das Rätsel seines Lebens.

„Du musst nichts sagen“, fügt er sanft hinzu. „Heute ist die erste Nacht. Keine Versprechen. Keine Fragen. Nur Vertrauen.“

Li Yang kommt näher. Seine Bewegungen sind ohne jede Hast. Nur Präzision. Sinnlichkeit. Sanfte Dominanz.

Er berührt meine Hand. Und ich weiß sofort, dass jetzt alles anders sein wird. Nicht nur Sex.

Wir haben es nicht eilig. Li Yang setzt mich auf das Sofa und reicht mir ein Glas Wein. Es ist genau der Wein, den ich liebe. Woher weiß er das? Ich frage nicht.

Er setzt sich mir gegenüber, ohne näher zu kommen. Er sieht mich nur an und sagt:

„Du bist nervös.“

„Ein bisschen“, gebe ich zu.

„Das ist gut.“

Li Yang lächelt, und dieses Lächeln reicht aus, um in mir ein Feuer zu entfachen. Kein körperliches – nein. Es ist tiefer. Es ist wie ein Kraftschub und Vertrauen. Wie ein Schritt von einer Klippe, aber mit dem Wissen, dass man aufgefangen wird.

„Heute wirst du zuhören“, sagt er. „Dann werde ich Fragen stellen. Und dann ... kommt alles andere.“

Und er beginnt zu sprechen. Seine Stimme ist wie Musik, nur ohne Melodie. Er spricht über Wünsche, Grenzen und Vertrauen. Darüber, dass Kunst nicht nur ein Bild ist. Dass sie auch Atem ist. Und Haut. Und Angst.

Ich merke nicht, wie ich auf dem Boden vor ihm im Halbdunkel direkt auf dem Teppich lande. Li Yang nimmt mir die Kette ab, setzt eine Maske auf und sagt:

„In diesem Spiel wirst du dich selbst sehen, Inga. Aber nicht sofort. Nach und nach.“

Er berührt mit seinen Lippen meinen Schlüsselbein. Dann meine Hände. Er hat es nicht eilig. Es ist fast wie ein Segen.

Als Li Yang mich auszieht, empfinde ich keine Spur von Scham. Nur Neugier. Tief, durchdringend, als wäre ich gleichzeitig die Heldin eines Films und die Zuschauerin.

Er spricht wenig, aber jedes Wort hat Gewicht.

„Wenn du aufhören willst, sag einfach Bescheid.“

Ich sage nichts. Ich schaue ihm einfach in die Augen, und er versteht alles.

Unsere Nähe in dieser Nacht ist anders als alles, was ich bisher erlebt habe. Es ist kein Sex. Es ist nicht nur Leidenschaft. Es ist ... eine echte Entdeckungsreise. Ich berühre nicht nur seinen Körper, ich erforsche mich selbst, meine Verletzlichkeit und meine Stärke. Li Yang führt, aber er drängt mich nicht. Er kontrolliert, aber mit Respekt, als würde er meinen Körper zu einer Skulptur formen. Er fängt den Rhythmus meines Atems ein.

Danach hält er mich in seinen Armen. Wickelt mich in eine Decke. Reicht mir Wasser. Legt mir einen Umhang um die Schultern, als wären wir keine Spielpartner, sondern zwei Schauspieler, die gerade das wichtigste Stück ihres Lebens gespielt haben.

„Du warst wunderschön, Inga“, flüstert er.

Ich lächele, sage aber nichts. Mein Kopf ist völlig leer, mein Körper unglaublich entspannt. Mit niemandem habe ich mich jemals so wohl gefühlt.

Am nächsten Morgen wache ich allein auf. Auf dem Tisch steht eine Tasse mit meinem Lieblingskaffee und eine Serviette mit der Aufschrift:

„Du bist mehr, als du denkst. Heute hast du die zweite Runde geschafft.“

Ich fahre mit dem Finger über das Papier. In mir brodelt es wie nach einem Gewitter. Und außerdem ... habe ich das Gefühl, dass Li Yang mich viel zu gut kennt. Viel zu gut.

Der Kaffee ist genau so, wie ich ihn mag: ohne Zucker und mit Kardamom. In der Küche liegt ein Buch.

Am Kühlschrank klebt eine Notiz. Nur ein Satz: „Deine Angst ist, nicht gehört zu werden. Aber ich höre dich. Nimm das Buch, es ist ein Geschenk.“

Das Buch ist teuer. Es handelt von Kunstgeschichte.

Ich lasse mich langsam auf einen Stuhl sinken. Er weiß es. Er kennt meinen Geschmack. Meinen Schmerz. Meine Einsamkeit. Und ... meinen Code.

Hat er etwa meine Texte gelesen? Oder ... hat er gesehen, wie ich lebe?

Der Tag vergeht wie im Halbschlaf. Als ich nach Hause komme, lese ich den Vertrag noch einmal, und das Wort „sich nicht verlieben“ erscheint mir nun nicht mehr als Empfehlung, sondern als Drohung.

Mir ist klar: Wenn ich weitermache, verliere ich mein Lebensgleichgewicht. Aber wenn ich gehe, verliere ich noch mehr.

Also bleibe ich vorerst. Und die Schlange in mir ... beginnt sich gerade erst zu entfalten.

Am nächsten Morgen finde ich ein Geschenk.

Ich trinke meinen Kaffee und nehme das Buch, blättere gedankenverloren darin. Ich sehe, dass etwas zwischen den Seiten steckt.

Ist das ... ein Lesezeichen?

Es ist weder aus Plastik noch aus einem Laden. Es ist alt, dünn wie Papyrus. Es fühlt sich an wie Stoff, vielleicht Seide, die mit der Zeit verblasst ist. Darauf ist ein orientalisches Muster zu sehen: ein in einen Kreis geflochtenes Schlangenmuster und stilisierte Buchstaben. Ich kann es nicht sofort entziffern, aber dann sehe ich die Inschrift „Ex Umbra Lux”.

Aus der Dunkelheit kommt das Licht, scheint es.

Auf der Rückseite steht in winzigen goldenen Buchstaben:

„Du liest zwischen den Zeilen. Ich sehe es. Lies weiter.”

Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Li Yang ist in meine Gedanken und mein Herz eingedrungen.

Das Buch selbst ist kein Zufall. Es ist eine Sammlung von Essays über Macht und Körperlichkeit in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Eines meiner Lieblingsbücher. Ich habe es zehn Mal gelesen. Niemandem habe ich davon erzählt. Weder in Interviews, noch in Artikeln, nicht einmal Rita. Es ist zu speziell. Zu ... persönlich.

Ich stehe mit diesem Lesezeichen in der Hand da und spüre, wie meine Finger zittern.

Li Yang weiß nicht nur, was ich lese. Er weiß, wie ich lese. Er spricht mit mir in einer Sprache, die noch nie jemand zuvor mit mir gesprochen hat. Nicht mit Worten, sondern mit Symbolen. Mit Signalen und Schichten, die man wie Haut aufdecken muss.

Ich setze mich mit einer neuen Tasse Kaffee an den Schreibtisch und mein Herz schlägt viel zu laut. Das ist keine Angst. Es ist... ein Gefühl extremer Nähe. So intensiv, dass meine Haut mich nicht mehr schützt.

Li Yang ist mir zu nah.

Vorher war es ein Spiel. Verträge, Masken, Rituale. Aber jetzt ist er in mein Allerheiligstes eingedrungen und nicht mehr nur ein Partner in einem Rollenspiel. Nicht mehr nur ein Rätsel, das ich Stück für Stück entschlüssele.

Li Yang ist jemand, der mich bereits von innen kennt.

Und das macht mir Angst. Es macht mir Angst wie eine Zuneigung. Wie eine Abhängigkeit von der Dunkelheit, in der man besser sieht als im Licht.

Ich nehme das Lesezeichen und fahre mit dem Finger darüber. Und plötzlich wird mir klar, dass mein Herz nicht vor Angst schlägt, sondern vor Begeisterung.

Er hat weder einen Ring noch ein Kleid oder Süßigkeiten hinterlassen.

Li Yang hat ... einen Hinweis hinterlassen. Dass er mich vollständig sieht. Dass er viel mehr über meine Wünsche und Sehnsüchte weiß.

Am Nachmittag treffe ich mich mit Rita. Wir sitzen in einem kleinen Café mit hohen Fenstern, trinken Cappuccino mit Zimt, und ich kann ihr davon erzählen.

„Das Lesezeichen?“ Sie schüttelt den Kopf.

„Bist du sicher, dass du dich nicht... na ja, dass du dich nicht verrückt machst?“

Sie war in dem richtigen Buch und mit einer Notiz. „Du liest zwischen den Zeilen.“ Das ist zu zutreffend.

Rita rollt mit den Augen:

„Na gut. Nehmen wir an. Er ist ein Dichter. Oder ein Manipulator. Oder beides in einem. Aber, Inga... sei vorsichtig.

Ich nicke. Nicht weil ich zustimme, sondern weil ich ihr nicht erklären kann, dass es nicht nur eine Annäherung ist.

Li Yang hat wie eine dünne Vorhang über meine Realität gezogen, wie eine Theaterkulisse, und alles, was mir gehörte, wurde zur Bühne. Ich bin seine Schauspielerin. Sein Rätsel. Und vielleicht... sein Ziel.

Am Abend berühre ich wieder die Lesezeichen. Ich halte sie ins Licht. Ich fange den goldenen Glanz der Schrift in den Strahlen ein.

Ex Umbra Lux.

Aus der Dunkelheit – Licht.

Ich weiß nicht, wer er ist. Aber ich weiß, dass er definitiv aus der Dunkelheit kommt. Und ich möchte immer weniger... dort herauskommen.

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