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Danach gehe ich zu einem Vorstellungsgespräch. Ich ziehe ein schwarzes Hemdkleid an, das nicht zu auffällig ist, aber meine Taille betont. Ich stecke meine Haare hoch und trage kleine Perlenohrringe. Ich stehe vor dem Spiegel und sage mir:
„Du bist eine Fachfrau. Du bist eine Kunstexpertin. Du gehst zur Arbeit.“ Du suchst keinen Fremden in einer schwarzen Maske. Jetzt ist nicht die Zeit dafür, Inga.
Das ist natürlich gelogen. Aber wenn man sich selbst nicht belügt, überlebt man nicht.
Die Fahrt zur Galerie dauert zwanzig Minuten. Unterwegs blättere ich auf meinem Handy durch die Website der Ausstellung. Der Titel des Projekts lautet: „Nackte Macht. Neunundneunzig Schatten der Begierde“.
Ich erstarre. Neunundneunzig. Zufall?
Die Beschreibung ist vage, als würde absichtlich Raum für Spekulationen gelassen: Installationen, die die Psychologie der Macht, Männlichkeit, Kontrolle, Unterwerfung sowie rituelle Formen der Verführung in der modernen Kultur untersuchen.
Das Gebäude der Galerie ist beeindruckend. Es handelt sich nicht um einen klassischen Ausstellungsraum, sondern um ein altes, renoviertes Stadthaus. Buntglasfenster, Marmor und dunkles Holz. Alles atmet Altertum, Geld und exquisiten Geschmack. Im Inneren herrscht Halbdunkel und leise Musik. Elektronisch und kaum wahrnehmbar. Unerwartet.
An der Rezeption steht eine Frau um die vierzig in einem strengen schwarzen Kostüm mit glänzenden schwarzen Fingernägeln. Sie sieht mich an, als wüsste sie, wer ich bin. Als wüsste sie auch von der Maskerade.
„Inga Smirnova?“, fragt sie.
Ich nicke.
„Sie werden erwartet. Bitte gehen Sie in den kleinen Saal.“
Der Kurator selbst möchte das Vorstellungsgespräch führen.
Ich blinzele. Normalerweise übernimmt das der Personalmanager.
„Der Kurator?“, frage ich vorsichtig nach.
„Er kümmert sich selten persönlich um solche Dinge“, antwortet sie mit einem Lächeln. „Aber in diesem Fall hat er eine Ausnahme gemacht.“
Ich spüre, wie alles in mir erstarrt. Mein Puls pocht in meinen Schläfen.
Ich gehe den Flur entlang. Die Wände sind braun. An ihnen hängen schwarz-weiße Fotos von Menschen mit Masken. Manchmal sieht man nur ihre Hände. Oder ihren Mund. Oder eine Silhouette in Latex, wie die Heldin aus dem Film „Die Sekretärin“. Das wirkt nicht vulgär. Eher ... wie eine Art Ritual.
Auf der Glastür des Saals ist dieselbe Schlange eingraviert. Ich berühre sie mit den Fingern, atme kaum und trete ein.
Es ist dunkel wie hinter den Kulissen eines Theaters. Nur die Exponate sind beleuchtet: eine Ledermaske, eine Gipsskulptur von Händen, die sich umarmen, ein Spiegel in Form eines Schlosses. Die Decke ist mit Stoff bespannt. Und all das ist durchdrungen von derselben Ästhetik, die ich bereits an mir selbst gespürt habe: auf meiner Haut, entlang meiner Wirbelsäule, in meiner Kehle. Er ist hier. Vielleicht nicht physisch. Aber es ist sein Projekt. Seine Handschrift.
Ich bleibe vor einer der Installationen stehen. Im Halbdunkel ist ein samtbezogener Sofa zu erkennen, davor liegt ein Fell, und über der ganzen Szene hängt eine Maske, fast identisch mit der, die er in jener Nacht trug.
Meine Beine geben nach. Ich atme tief ein, aber ich gehe nicht weg. Ich renne nicht weg. Halte durch, Inga!
Ich höre Schritte.
Langsam, sicher, ohne Eile. Sie klingen, als müsse sich derjenige, der sie macht, nicht vorstellen. Er beherrscht diesen Raum bereits. Und mich auch – zumindest teilweise.
„Frau Smirnova“, höre ich eine Stimme hinter mir.
Es ist dieselbe Stimme. Genau dieselbe Stimme.
Ich drehe mich um. Der Mann steht im Halbdunkel. Ohne Maske. Aber er hat alles, was ich in dieser Nacht an ihm erkannt habe: Selbstsicherheit, zurückhaltende Kraft, eine alles umhüllende Dunkelheit. Schwarze Hose. Hemd ohne Krawatte. Die Ärmel sind hochgekrempelt. Am linken Handgelenk trägt er ein silbernes Armband in Form einer Schlange.
Er hat schwarzes Haar und unglaublich braune Augen, in denen man versinken könnte. Ein unglaublich schönes Gesicht. Gibt es solche Gesichter überhaupt?
„Guten Tag“, sage ich. Meine Stimme zittert verräterisch.
Er macht einen Schritt näher.
„Mein Name ist Li Yang. Ich bin der Kurator dieser Ausstellung. Und wie Sie sich wahrscheinlich schon gedacht haben, wird unser Gespräch kein gewöhnliches Vorstellungsgespräch sein.“
Ich stehe da wie eine Statue. Nur meine Wimpern zittern.
„Haben Sie sich auf das Treffen vorbereitet?“, fährt er fort. „Haben Sie etwas über die Ausstellung gelesen?“
„Ja.“
Der Titel... schluckte ich. Er erinnert an das, was Sie mir geschrieben haben.
Er lächelt. Als wäre es sowohl eine Ermutigung als auch eine Drohung.
„Das ist weder Zufall noch eine Botschaft. Es ist... eine Herausforderung.“
Li Yang kommt näher. Ich rieche Holz, Leder und etwas Würziges, Warmes.
„Wenn Sie sich bereit erklären, an dem Projekt teilzunehmen“, sagt er, „müssen Sie sich darüber im Klaren sein, dass diese Arbeit nicht nur Kompetenz erfordert. Sondern auch Mut. Bereitschaft. Sehnsucht. Es erwartet Sie nicht nur eine Galerie.
Er macht eine Pause:
„Es erwartet Sie ... ein Spiel.
Ich atme schnell. Aber ich gehe nicht weg. Ich bin bereit zuzuhören. Und bereit ... zu spielen.
Er steht ganz nah bei mir. Sein Atem streift meinen Hals:
„Ich würde mich freuen, wenn Sie zustimmen würden, Inga.“
Als ich nach dem Gespräch mit dem Kurator – wenn es überhaupt ein Gespräch war und nicht nur der theatralische Auftakt zu etwas Größerem – in die Lobby zurückkehre, wartet die Verwaltungsangestellte bereits an der Tür im gegenüberliegenden Flügel auf mich.
„Frau Smirnova“, sagt sie höflich. „Sie werden gebeten, ins Archivbüro zu kommen. Dort wurde etwas abgegeben, das laut dem Kurator ‚Ihnen gehört‘.“
„Mir?“ Ich verliere fast den Schritt. „Ist das... ein Irrtum?“
„Wohl kaum“, antwortet sie mit einem Gesichtsausdruck, als wäre alles längst nach Drehbuch geschrieben. „Alles ist bereits vorbereitet.“
Ich gehe den Flur entlang, der diesmal mit grünem Samt ausgekleidet ist. Meine Schritte sind kaum zu hören, die Luft ist stickig und riecht nach staubigen Gemälden, Weihrauch und etwas Metallischem. An der Tür steht in lateinischen Buchstaben: „Archivum“. Und der Türgriff hat die Form eines Löwenkopfes. Da hat sich eindeutig jemand aufgespielt.
Ich öffne die Tür. Der Raum ist leer. Regale mit Ordnern, Schubladen, nur von warmen Lampen beleuchtet. Auf dem Tisch in der Mitte steht eine Schachtel.
Ganz schwarz. Matt, mit einer weichen Textur, mit einem dünnen goldenen Band umwickelt. Ein Geschenk? Oder eine Falle?
Ich nähere mich langsam und schaue auf die Karte, die unter dem Band steckt.
Darauf ist nur ein Symbol zu sehen. Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt.
Mein Atem stockt. Vorsichtig löse ich die Schleife. Ich nehme den Deckel ab.
Darin liegt eine Maske. Genau die. Mein Gott, ist das meine? Pfauenaugen, Federn, Glitzer. Schwarzer Samt, ein Futter, das den Duft dieses Abends bewahrt, von Kerzen, Champagner und seinen Händen. Ich lasse die Schachtel fast fallen. Meine Finger werden schwach, als wäre die Maske schwerer, als sie tatsächlich ist.
Aber ich kann mich nicht erinnern, sie zurückgelassen zu haben. Das heißt ... Das heißt, er hat genau die gleiche gemacht?
Und jetzt zeigt er mir, dass er sehr detailverliebt ist.
Ich fahre mit den Fingern über den Rand der Maske. Es fühlt sich an, als würde sie atmen. Oder atme ich zu schnell und zu schwer? Es ist, als wäre nicht ein Gegenstand in der Schachtel, sondern ein Portal. Eine Eintrittskarte zurück in jene Nacht. Oder in die folgenden neunundneunzig.
„Frau Smirnova?“ ertönt eine Stimme an der Tür.
Ich zucke zusammen. Ein junger Mann in blauer Galerieuniform steht mit einem Umschlag in der Hand in der Tür. Er ist unerschütterlich, fast wie ein Diener aus einem alten Roman.
„Das ist für Sie.“ Er reicht mir den Umschlag. „Ich soll ihn Ihnen persönlich übergeben.“
Der Umschlag ist dunkelrot. Der Wachssiegel zeigt denselben Schlangen. Mein Name ist in kalligraphischer Schrift geschrieben. Mit leicht zitternden Händen öffne ich ihn. Das Papier ist dick, teuer, riecht nach Tinte und etwas Holzartigem.
Der Text ist schwarz auf dunkelcremefarbenem Papier gedruckt. Die Schriftart ... genau wie auf einem Theaterplakat.
„Neunundneunzig Nächte. Willkommen, Inga. Du hast die erste Stufe geschafft. Vor dir liegen noch achtundneunzig. Suche nicht nach einer Karte. Warte nicht auf Anweisungen. Deine Maske ist der Schlüssel. Dein Wunsch ist dein Wegweiser. Die Regeln werden im Laufe des Spiels offenbart. Wenn du aussteigen willst, musst du es nur sagen. Aber wenn du bleibst, wirst du dich selbst kennenlernen. Und vielleicht auch ihn ...“
Und dann war da noch die Zeichnung des Ouroboros. Aber ich wusste bereits, dass Ouroboros Li Yang war.
Keine Unterschrift. Nur Schlangen. Wieder er. Und ich.
Mein Herz schlägt so schnell, als würde ich nicht einen Brief lesen, sondern am Rand von etwas Dunklem, Abgrundtiefem stehen. Das ist nicht nur ein Roman. Nicht nur ein Liebesspiel. Das ist ... etwas Tieferes. Ich berühre wieder die Maske. Das gleiche Zittern, der gleiche Funke. In der Schachtel befindet sich noch ein weiterer Gegenstand. Ein kleiner Schlüssel. Aus Metall, gebogen und mit einem winzigen Schlangenkopf am Ende.
„Was ist das?“, frage ich den Mann in der blauen Uniform.
Er lächelt nur höflich:
„Die Anleitung kommt später.“
Dann verschwindet er hinter der Tür.
Ich bleibe allein mit dem Brief, dem Schlüssel und meiner eigenen Maske zurück.
Für einen Moment möchte ich zurückweichen und alles aufgeben. Nach Hause gehen, Kaffee kochen und mich unter einer Decke verstecken.
Aber die Maske liegt nicht als Herausforderung in der Schachtel, sondern als Versprechen. Das Versprechen dessen, was mir der Mann schenken könnte, der seit gestern Abend meine Gedanken beherrscht.
