Kapitel 4
Ich schrecke schweißbedeckt aus meinem unruhigen Schlaf hoch. Mein Atem geht viel zu schnell und keuchend strampele ich mich von meiner Decke frei, die sich um meine Beine gewickelt hat und sich wie eine Schlange um mich festzieht. Mir das Gefühl gibt, eingeengt zu sein. Mit zittriger Hand reibe ich mir übers Gesicht und atme leiser, um nach Alice zu lauschen. Doch ihr Atem geht weiterhin gleichmäßig, sie schläft also noch. Gut so, denke ich erleichtert, bevor ich die Decke zum Bettende kicke und nun ohne daliege, die Bettlatten über mir anstarrend. Für meine Augen ist es mittlerweile kein Problem mehr, sich innerhalb von Sekunden an die Dunkelheit anzupassen. Das Hochbett knarzt, als Alice sich bewegt, kommt kurz darauf aber wieder zum Stillstand. Leise greife ich nach dem Handy unter meinem Kopfkissen und schaue auf die Uhr. 5:22 Uhr. Ich habe noch über eineinhalb Stunden Zeit, bevor wir offiziell aufstehen und uns fertig machen müssen. Die ganze Woche ist recht ruhig verlaufen, das Wochenende steht kurz bevor und jeder freut sich darauf. Nur ich nicht. Richtig ausschlafen kann ich manchmal, aber nicht immer und diese Ungewissheit zerrt an meinen Nerven. Mal schlafe ich traumlos und friedlich, nur damit die nächsten Nächte mit Albträumen gefüllt sind. Auch jetzt bekomme ich die Augen nicht zu und beschließe nach zwanzig Minuten, raus zu gehen, um der bohrenden Langweile und inneren Unruhe zu entkommen, während sich der unsichtbare Schrecken langsam auflöst. Leise stelle ich mich auf den flauschigen Teppich, ziehe mir frische Sportsachen an und schleiche aus meinem Zimmer raus, um Alice nicht zu wecken. Sie schläft lang und gerne, was ich nicht gedacht hätte. Wenn man sie dann aus ihrem Schlaf reißt, kann sie ziemlich böse reagieren, deswegen nehme ich mich lieber in Acht. Schließlich ist sie quasi meine Alpha, auch wenn der Gedanke immer noch einen seltsamen Klang hat. Ich kann mich einfach noch nicht gänzlich an diese Rudelregeln gewöhnen, es wirkt so... tierisch. Keineswegs wie die gleichgestellte Gesellschaft der Menschen. Zu denen ich mich jahrelang gezählt habe. Ich schüttele stumm meinen Kopf und verlasse durch einen Seiteneingang das Schulgebäude. Die schwarzen Steine glänzen wie poliert in der Morgensonne, eine angenehme Frische liegt in der Luft und zufrieden atme ich durch. Meine Unruhe legt sich ein wenig und ich mache mich auf, um eine kleine Runde laufen zu gehen, die meine düsteren Träume vollends vertreiben soll. Eine halbe Stunde später gehe ich nur leicht außer Atem über das Fußballfeld und halte auf das Gebäude vor mir zu. Bereits jetzt wird die Hitze der Sonne spürbar und legt sich wie ein flimmernder Mantel auf meine Haut. Die sonst blaugrauen Schindel des T- förmigen Gebäudes werden von einem orangenen Schein ummantelt, der von der aufgehenden Sonne rührt. Die Vögel trällern bereits ihre Morgenlieder und schicken eine summende, fröhliche Melodie mit dem Wind. Ich schließe kurz meine Augen und genieße das Gefühl tiefer Ruhe. In solchen Momenten ist alles weit weg. Es gibt keine Entführer mehr, die auf freiem Fuß sind. Keine Fragen, für wen sie gearbeitet haben. Keine ehrfürchtigen Blicke von einigen jüngeren Schülern, die uns als Art Helden feiern, obwohl ich eigentlich nichts gemacht habe außer fast zu sterben. Es gibt nur mich, die Natur und ihren Singsang, der von Freiheit, Liebe und Schutz erzählt.
"Du bist ja früh wach." Blinzelnd öffne ich meine Augen und lächele den dunkelhaarigen Jungen an. Ich hatte ihn bereits kommen hören und gerochen. Die Gerüche zu unterscheiden wird immer einfacher, je mehr ich mich auf meine Sinne konzentriere.
"Ja... konnte nicht schlafen", meine ich leise und schreite auf ihn zu. Dylan lächelt schief.
"Ich schlafe auch nicht besonders lange. Da ist es ja gut, dass wir beide Frühaufsteher sind", meint er und legt mir einen Arm um die Schulter. Ich erröte nur leicht und lasse mich von ihm mitziehen. Solche Gesten sind für ihn völlig normal. "Puh, du stinkst", schnaubt er plötzlich und verärgert schlage ich ihm gegen die Schulter und winde mich aus seinem Griff.
"Ey! Ich war gerade laufen", verteidige ich mich halbherzig. Dylan pustet sich nur eine entflohen Strähne aus den Augen und hebt seine Augenbrauen an.
"Das ist keine Entschuldigung." Jetzt schnaufe ich.
"Ich muss mich auch vor gar nichts rechtfertigen", schnappe ich zurück und strecke Dylan die Zunge heraus. Er erwidert die Geste und trotzdem muss ich kopfschüttelnd grinsen. "Du nervst." Dylans Augen funkeln verschmitzt.
"Das hoffe ich doch." Ich seufze gespielt verzweifelt und beschleunige meine Schritte.
"Dann nerv woanders. Ich gehe jetzt duschen", erwidere ich und schlage ihm lachend die Nebentür vor der Nase zu. Er ruft irgendeine Beleidigung, aber ich kichere nur und renne in den Mädchenkorridor für den 2. Jahrgang. Im Eiltempo dusche ich mich in dem Gemeinschaftsbad und komme mit feuchten Haaren zurück ins Zimmer, die mein hellgrünes Shirt nass tropfen. Alice sitzt angezogen auf meinem Bett und springt auf.
"Wo warst du?", fragt sie fordernd und fährt sich durch die wirren, blauschwarz schimmernden Haare. Ihr hellblau gepunktetes Shirt betonte die dunklen Tiefen ihrer blauen Augen, passend zu der schwarzen, engen Shorthose, die ihre gebräunten, dünnen Beine frei lassen. Eines Tages wird sie noch atemberaubender sein als jetzt. Ihr Gesicht wirkt etwas blass und ich rubbele mit einem Handtuch über meine braunen Haare, die sich bereits kräuseln.
"Laufen. Ich bin etwas früh aufgewacht", erkläre ich ihr unsicher. "Ist irgendwas?" Alice Schultern sacken herab und sie fährt sich über ihr Gesicht.
"Nein. Nein. Ich war nur - Ist egal", bricht sie ab und schnappt sich ihren hellblauen Rucksack, der mit Gänseblümchen verziert ist. "Sehen wir uns beim Frühstück?" Ich runzele meine Stirn.
"Ja, klar, ich föhne nur noch meine Haare." Alice nickt mir zu und verschwindet aus unserem gemeinsamen Zimmer. Kurz blicke ich ihr ratlos hinterher, kümmere mich dann aber um meine Haare. Vielleicht war sie einfach etwas nervös, weil unsere Klassenlehrer uns heute irgendwas Wichtiges mitteilen wollen, erinnere ich mich. Und deshalb war sie besorgt, ich könnte schon beim Klassenraum sein. Es ist unlogisch, aber ich belasse es bei dem Gedanken. Fünf Minuten später packe ich meinen Rucksack fertig und marschiere hinaus in den Flur, den langen Korridor entlang und steuere im Hauptgebäude auf den Speisesaal zu. Kurz darauf setze ich mich mit dampfenden Rührei und gebratenem Speck an unseren Stammplatz. Ein runder Ecktisch im Saal, der nicht sehr zentral liegt, was mir nur recht ist.
"Da sehen wir uns wieder", grinst Dylan. Ich seufze und werfe ihm nur einen kurzen Blick zu, während mein Magen leise grummelt.
"Nervensäge."
"Wann war Dylan denn bei uns?", fragt Alice erstaunt.
"War er nicht. Er hat mich nach meiner Runde abgefangen", erkläre ich.
"Ah." Dylan nimmt einen Schluck kalten Kakao.
"Verletzend, wie genervt du von mir sprichst", meint er mit betrübter Miene. In seinen Augen blitzt der Schalk. Ich verdrehe meine Augen und schaue meine Freundin hilfesuchend an.
"Sag ihm, er soll nicht länger nerven." Alice Mundwinkel hebt sich amüsiert.
"So etwas kann man nicht abstellen. Tut mir leid", antwortet sie mit einem schwachen Grinsen. "Ein Trottel bleibt ein Trottel." Ich nicke mit vollem Mund.
"Wohl war", seufze ich resigniert. Dylan reißt seine Augen auf.
"Autsch. Jetzt verschwört ihr euch auch noch", murrt er. Alice stöhnt auf und schluckt den letzten Happen ihres Käsebrötchens.
"Halt die Klappe Dylan", verlangt sie in ihrem Ton, der eine Mauer hätte sein können. Ich nenne sie insgeheim ihre Alphastimme. Tatsächlich verstummt Dylan und verieht seine Lippen zu einem Schmollmund. Ich widme mich wieder meinem Frühstück und schlinge alles hinunter. Am Nachbartisch unterhält sich ein Mädchen der Princeps mit einem älteren Jungen, sie sprechen aufgeregt über ein sogenanntes Vier-Mond-Turnier. Die Worte kratzen an etwas in meinem Kopf, aber ich kann es nicht richtig fassen.
"Was ist das Vier-Mond-Turnier?" Alice fängt an zu strahlen und lässt ihre Gabel fallen.
"Ach du meine Güte, das hatte ich ja ganz vergessen! Unser Jahrgang ist endlich soweit, wir treten dieses Jahr auch an", ruft sie aufgeregt. Verständnislos blinzeln Dylan und ich sie an.
"Hä?", kommt es wenig geistreich von dem gebräunten Jungen. Alice lächelt nur verschwörerisch.
"Das werdet ihr heute noch erfahren", meint sie nur und steht auf, als wir sie mit Fragen bombardieren.
"Nein, dass ist bestimmt die Neuigkeit von der die Lehrer sprechen. Lasst euch überraschen."
"Alice, du kannst jetzt nicht gehen!", aber da hat sie sich schon zwischen den Tischen entlanggeschlängelt und uns alleine zurückgelassen.
