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1. Kapitel, Ly

Januar.

Sie ernannten mich in einer festlichen Zeremonie, die jedes zuvor gehörtes Märchen überschattete, als ihre Königin - trotz des Wissens, dass ich mein Amt nicht sofort antreten würde.

Sie hatten Verständnis für meine Situation, auch wenn ihnen der wahre Grund nicht bekannt war.

Alle dachten sie, ich sei in Wirklichkeit krank und würde mich deshalb sehr schonen müssen.

Nur heute, für diesen einen Tag, würde ich eine Ausnahme machen und mich weitestgehend zusammenreißen, sofern ich das konnte.

Ich betrachtete mich in dem Spiegel, doch hingen meine Augen nicht an meinem Gesicht, sondern an meinem Kleidungsstück.

Tami, das kleine, entzückende Mädchen, in welches ich mich so sehr verliebt hatte, zauberte mir auf meiner ausdrücklichen Bitte heraus bunte Blumen auf das weiße, bauschige Kleid sowie in meine langen, schwarzen Haare, die ein paar der anderen Mädchen mir kunstvoll hochgesteckt hatten.

Dabei strahlten ihre hellgrünen Augen wie kleine Leuchtkäfer und dankend gab sie mir einen dicken Schmatzer auf meine Wange.

Ich hingegen drückte sie fest an mich.

Wenn ich über etwas aus vollstem Herzen lächeln konnte, dann war es über das zuckersüße, blonde Mädchen mit den Engelslocken.

Mein Onkel Luke und Thio, sein bester Freund und unser treuer Weggefährte, gratulierten mir als nächstes, dicht gefolgt von Fauna und Makena, die so etwas wie Thio's Pflegetochter war.

Die beiden waren vor wenigen Tagen fest zusammen gekommen und ich gönnte ihnen ihr Glück von ganzem Herzen.

Sie waren ein Paar wie aus dem Bilderbuch:

Makena's dunkle, braune Augen glänzten, was durch den kurzen, kinnlangen Bob, der ihr Gesicht stets umrahmte, nur noch mehr betont wurde.

Fauna hingegen trug viele dünne geflochtene Zöpfe und auch ihre Haut wurde mithilfe weißer Farbe bemalt, sodass sie beinahe tattoowiert aussah.

Manchmal malte sie sich in mühevoller, stundenlanger Arbeit kleine Mandalas auf ihre Hand- und Fußrücken; die hellen Muster sahen immer wunderschön auf ihrer dunklen Haut aus.

Die vier waren geschockt, als ich ihnen erzählte, was Alec getan hatte.

Allen voran blieb jedoch Luke die Luft weg, der ihn all die Jahre wie seinen eigenen Sohn behandelt hatte, lange bevor er mich kannte.

Oder überhaupt von mir wusste.

Geschafft griff er sich in sein ergrautes, schütteres Haar, während er sich auf den Boden hockte.

Thio hingegen fuhr sich mehrmals über seine Glatze, ehe er sich die Hände in die Hüften stemmte und den Kopf schüttelte.

Doch auch Thio's beiden Söhne zeigten sich sehr ergriffen und bekundeten mehrere Male, wie leid es ihnen doch täte und wie dankbar sie waren, dass sie eine zweite Chance bekommen hatten.

Elio und Milo, welche Chris und ich vor etwa zwei Wochen mit anderen Gefangenen aus Amon's Schloss befreit hatte, jubelten mir in diesem Moment jedoch entgegen und pfiffen durch ihre Zähne.

Dabei strahlten sie mit ihren dunkelbraunen Augen um die Wette.

Viele weitere,

ob Wölfe, Bären, andere Wertiere,

Naturgewandte oder sogar ein paar der  winzigen Feen, taten es ihnen gleich.

Sie feierten uns und unsere Freizeit, doch vor allem mich als ihre Königin.

Lächelnd blickte ich durch die Menge und blieb bei Chris hängen, dessen Augen einen Hauch von Besorgnis ausstrahlten.

Der Werfuchs stand hinter mir, bedacht darauf mich aufzufangen, wenn ich mal wieder brechen sollte.

Und dies war seit Alec's verschwinden sehr oft der Fall.

Chris sorgte dann immer dafür, dass ich nicht wie ein Häuflein Elend auf dem Zimmerboden kauerte und vor allem dafür, dass ich nicht alleine war.

In den vergangenen zwei Wochen war er für mich mehr geworden als nur ein guter Freund.

Nicht, dass ich Gefühle entwickelt hätte, die über Freundschaft hinaus gingen.

So weit war ich noch lange nicht; ich wusste nicht einmal, ob ich jemals wieder so weit sein würde, um eine Person an mich heranzulassen.

Und doch verbrachten wir keine Nacht ohneeinander, was zugegebenermaßen eher an meinen wiederkehrenden Alpträumen lag, als daran, dass zwischen uns eine sexuelle Anspannung bestehen würde.

Zudem hatte er immer ein offenes Ohr und ausgebreitete Arme für mich übrig, was er auch nie müde wurde, zu erwähnen.

Wann immer ich weinte, schrie, tobte, an mir selbst verzweifelte - Chris war da und wich mir nicht von der Seite.

Er erwies sich als mein Fels in der Brandung; als mein Beschützer- wenn auch oftmals vor mir selbst.

Erwähnenswert war auch, dass er sich bis zum heutigen Tage nicht ein einziges Mal beklagt hatte, obwohl ich ihm nicht nur zahllose Nächte geraubt, sondern auch unzählige Nerven gekostet hatte.

Die meiste Zeit, wenn ich mal wieder auf dem Boden war und in nichts meinen Sinn fand, hielt er mich einfach nur fest und hinderte mich daran, zu zerbrechen.

An anderen Tagen redete er mir gut zu oder erzählte belangloses, etwa,  was sich draußen vor dem Fenster unseres Schlosses tat oder was Luke ihm am Abend berichtet hatte.

Wenn ich nicht gerade den Tränen nahe war, holte er die kleine Tami mit ins Boot.

Besonders dann, als wir erfuhren, dass sie wie ich selbst eine Waise war, verbrachten wir an meinen guten Tagen jede freie Minute mit ihr.

Doch auch mein Onkel Luke, Thio, Makena und Fauna unterstützten mich, wo sie nur konnten.

Luke hatte kurzerhand die Leitung der Werwölfe übernommen und Thio die der Werbären.

Ich war ihnen außerordentlich dankbar, dass ich mich um sie keine Gedanken machen musste.

Makena und Fauna hatten die Naturgewandten übernommen, ohne dass ich sie darum gebeten hätte.

Doch sie alle taten es, weil sie mich auf ihre eigene Art und Weise liebten.

Und weil sie wussten, wie sehr ich den Jungen mit den blitzenden, blauen Augen und den hellblonden, verwuschelten Haaren doch geliebt hatte.

Wie sehr mich sein Fernbleiben doch verletzt hatte, ja sogar krank gemacht hatte.

Luke deutete ab und zu an, dass ich wieder auf die Beine kommen müsste.

Nicht, um ihnen Arbeit abzunehmen - das, was sie taten, machten sie sehr gern.

Und doch meinte er, ich hätte starke Ähnlichkeiten zu der Ly, die er anfangs vor seiner Haustüre begrüßt hatte.

Die Ly, die wenige Wochen zuvor ihre Eltern verloren hatte und sich mit einem Mal in eine Werwölfin - die erste weibliche überhaupt- verwandelte.

Und noch dazu die Naturgewandten Fähigkeiten ihrer Mutter Linda bekam, die sogar die rechtmäßige Königin Mirellias gewesen wäre, hätte ihr Bruder Amon sie nicht von ihrem Trohn gestürzt.

Amon, der zugleich Alec's Vater war, der seinen Sohn dazu gebracht hatte, mich, nein uns alle auszuspionieren.

Und mich dazu brachte, mich Hals über Kopf in ihn zu verlieben.

Vielleicht war es die Liebe, die mich davon abhielt, klar zu denken.

Vor allem weiter zu denken.

Dauernd wartete etwas in mir, dass er vor den Pforten stand und mich angrinste.

Das er wieder hier war und mich tröstend in seine beiden Arme schloss.

Doch es war nicht er, der dies tagtäglich tat, sondern Chris, welcher mir gerade aufmunternd zunickte und mich stumm aufforderte, den mit bunten Blüten übersäumten Weg entlangzugehen, durch die Massen an Wertieren, Naturgewandten und anderen Gestalten hindurch.

Ihnen allen war ihre Freude ohne jeden Zweifel anzusehen.

Sie hatten mich gewählt, um für sie dieses Land zu regieren und zu beschützen.

Und so riss ich mich zusammen und brachte ein Lächeln aus meinen Lippen hervor, wenn auch nur ein kleines.

Als ich meine ersten Schritte über das Blütenmeer machte, stimmten sie eine wunderschöne Melodie an, die ohne jeden Text auskam.

Es war eine Verflochtenheit von verschiedenen Tönen, die die Vögel am Horizont dazu animierte, mit einzustimmen.

Lächelnd hielt ich die Rute eines Baumes in die Höhe, welche mit einem Mal wunderschöne, weiße Blüten trug.

Sie ähnelten denen von Seerosen, nur schienen sie beinahe gläsern und durchsichtig, sodass ich Angst hatte, sie könnten zerbrechen.

Der Tradition nach steckte ich ihn tief in die Erde und ließ ihn mithilfe meiner Fähigkeiten Wurzeln schlagen und schließlich wachsen, ließ ihn größer und stärker werden, in seiner vollen Pracht erblühen.

Die Menge um mich herum sang lauter und einige Feen tanzten um die immer länger werdenden Äste herum, die sich mehr und mehr verzweigten, um darauf ihren Glitzerstaub zu verteilen.

Als sie ihr Lied beendeten, schien der Baum in seiner Vollendung zu sein.

Lediglich gläserne Blüten ersprießten aus den Zweigen, die sich in dem Sonnenlicht erbrachen und ein regenbogenartiges Licht zauberten.

Sie alle, einschließlich mir, bestaunten kurz meinen Baum, der beinahe so wirkte, wie als wäre er aus Eis.

In der Menschenwelt hatte ich nie vergleichbareres gesehen und selbst Bob Ross hätte enorme Schwierigkeiten gehabt, die Schönheit des Baumes auf eine Leinwand zu bringen.

Mit der Erblühung des Baumes war die Zeremonie vorbei.

Gelächter und klatschen war zu hören, bis sich die Menge in kleine Gruppen aufteilte.

Die einen huschten zu dem üppigen Buffet, welches ein paar Naturgewandte eigens für diesen Tag gerichtet hatten, ein paar andere begannen, sich über die Wiesen zu jagen, wie als wären sie Hund und Katz.

Einzig Luke, Thio, Fauna, Makena, Chris und ich blieben bei dem Baum stehen und warteten ab, bis alle außer Hörweite waren.

Besonders Makena warf mir häufig einen ihrer besorgten Blicke zu, die mich innerlich die Augen verdrehen ließen.

Einerseits freute mich ihre aufrichtige Sorge um meine Person, andererseits nervte sie mich auch ein bisschen.

Also nutzte ich meine Wolfsfähigkeit, um ihr etwas in Gedanken zu schicken.

"Könntest du BITTE damit aufhören?"

Sie seufzte kaum merklich und ein schwacher Schimmer lag über ihrem Gesicht.

Anklagend verzog sie ihre schmalen Lippen.

"Ich mache mir eben Sorgen um dich.", antwortete sie mir ebenso gedanklich zurück.

"Wir alle.,", fügte sie dann noch hinzu.

Dies war mir durchaus aufgefallen.

"Aber es geht mir gut, Makena.

Wirklich, ich bin drüber hinweg."

"Ach, wirklich."

Es klang eher nach einer Feststellung und so vermied ich es, zu antworten.

Dennoch kannte mich Makena mittlerweile so gut, dass sie auch gar nicht erst eine Antwort von mir erwartet hatte.

Sie hob lediglich eine ihrer dunkelbraunen Augenbrauen nach oben und blickte mich bedeutsam an.

Ich presste jedoch verbissen meine Lippen aufeinander und drehte mich zu Chris.

Mittlerweile genügte ein kurzer Blick und er verstand.

Gemeinsam gelangten wir hoffentlich größtenteils unbemerkt durch den Hintereingang des Schlosses.

Es sah in der Sonne beinahe so aus, wie eine schillernde Lotusblüte.

Doch für die Schönheit des Gebäudes hatte ich keine Augen.

Generell war ich blind geworden, blind für die Schönheit, die diesen Ort doch umgab.

Chris aktivierte bei der Tür angekommen seine Fähigkeit - er konnte uns unsichtbar machen - und so gelangte ich geschützt vor eventuellen Blicken in mein, beziehungsweise, unser Zimmer.

Es war sehr floral und natürlich gehalten, man dachte beinahe, man würde in einem Laubwald leben.

Alles war aus Holz und Wurzeln gefertigt, vieles mit Tami's Hilfe, die schon sehr früh eigener Herr über ihre Fähigkeiten war, trotz ihres zarten Alters von etwa sechs Jahren.

Sie war es, die aus Weidenruten mein Bett geformt hatte, auf dem ich mich jetzt kraftlos niederließ.

Es war zu den Fenstern ausgerichtet, die in der Abendsonne ein schwaches Licht auf mich warfen.

Chris wartete eine Weile still, bis er sich zu mir an den Rand setzte und behutsam meinen Rücken streichelte.

Anfangs erschien diese kleine Geste noch sehr unbeholfen, mittlerweile genoss ich sie und sog sie auf wie eine ausgehungerte Pflanze den Dünger.

Erst da merkte ich, wie sich Mal wieder Tränen über meine beiden Wangen bahnten und schluchzend wischte ich sie mit meinem Handrücken fort.

"Schhhh. Alles ist gut, Ly.", murmelte er leise, während seine Hand in regelmäßigen Abständen meinen Rücken hinauf und wieder hinunter fuhr.

Meine Schultern fingen an zu beben, als das Weinen stärker einsetzte.

Nur zu gerne hätte ich ihn heute bei mir gehabt.

Was Alec wohl trieb?

Ob er alleine in den Wäldern herumirrte?

Dachte er auch noch an mich, oder hatte er mich völlig aus seinem Herzen verbannt?

Ein gequälter Laut entfuhr meinen Lippen, woraufhin weitere folgten.

Chris streifte sich kurzerhand seine Schuhe von den Füßen, ehe er sich zu mir auf das Bett legte und mich fest von hinten umarmte.

Er hielt mich, damit ich nicht in tausend einzelne Stücke zersplitterte.

Damit ich mich ein kleines bisschen weniger allein fühlte.

Genau diese Art von Nähe brauchte ich jetzt.

Es fühlte sich bei weitem nicht so vertraut und gefühlvoll an als mit Alec, und doch gefiel es mir.

Es spendete mir Wärme, die mich seit Alec's Abwesenheit beinahe gänzlich verlassen hatte.

Mit Alec trat so viel in mein Leben, und mit ihm ging so viel.

Doch Alec blieb verschwunden.

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