Kapitel 2: Ich verachte dich
Emily verzog sofort das Gesicht zur gekränkten Miene: "Nora, sag doch nicht so etwas. Wir meinen es doch nur gut mit dir. Wenn du kooperierst, kannst du in Frieden leben... Ich werde mich um dich kümmern..."
"Du hast hier kein Mitspracherecht," schnitt ihr Nora mit eisiger Stimme das Wort ab. "Du bist nur die Tochter eines Chauffeurs - du bist nicht würdig, mit mir zu verhandeln."
Früher, da hatte sie Emily wie eine Schwester behandelt, ihr alles anvertraut, immer alles doppelt gekauft - eins für Emily, eins für sich. Waren sie nicht einst unzertrennlich gewesen? Niemals hätte sie gedacht, dass Emily sich mit Maxi einlassen und sie gemeinsam in diese Psychiatrie stecken würde...
Die Worte trafen Emily wie ein Schlag ins Gesicht. Ihr Gesicht erbleichte schlagartig, die Hände ballten sich zu Fäusten.
Doch vor Maxi musste sie die Rolle der unschuldigen, gütigen Frau weiterspielen. Also zwängte sie ein paar Tränen hervor und sagte gekränkt: "Nora... Ich habe dich immer als meine beste Freundin betrachtet. Du hast mich also nie als ebenbürtig angesehen? Du hast mich von jeher verachtet, oder?"
Als sie Emilys heuchelnde Schauspielvorstellung sah, brach Nora nur in noch schallenderes Gelächter aus: "Ganz recht, ich verachte dich." Sie musterte Emily von oben bis unten mit eisiger Verachtung. "Schon als Kind warst du mir nie gewachsen - weder an Aussehen, noch in der Schule, noch was die Herkunft angeht, noch an Beliebtheit. Was sollte mich dazu bringen, jemanden wie dich zu respektieren?"
"Nora!", fuhr Maxi dazwischen: "Sei nicht so undankbar! Emily ist inzwischen die Tochter der Familie Finck, und du bist nur noch eine Irre in der Psychiatrie."
Emily frohlockte innerlich, doch sie hüllte sich weiter in das Gewand der gekränkten Unschuld und beschwichtigte Maxi: "Maxi, sprich nicht so über Nora. Geh doch bitte kurz raus - lass mich mit ihr reden. Immerhin waren wir einmal die besten Freundinnen."
"Emily, du musst dir das nicht antun", wandte Maxi ein.
"Für dich ertrage ich das gerne", erwiderte Emily mit gespielter Zuneigung. "Mach dir keine Sorgen und geh jetzt. Ich werde Nora schon dazu bringen, dir die 20 Prozent der Anteile zu überschreiben."
Maxi warf Nora einen letzten verächtlichen Blick zu, schnaubte verächtlich und verließ den Raum.
Sobald Emily die Tür geschlossen hatte, fiel die Maske. Das eben noch so mitleiderregende Gesicht verwandelte sich in eine Fratze voller Bosheit.
Nora lehnte schwankend am Tischbein. Trotz ihrer Hilflosigkeit bewahrte sie einen Rest Würde. Ihr Rücken war kerzengerade, das Kinn entschlossen erhoben - als wäre sie immer noch die unantastbare Erbin der Werdins.
Genau diese Haltung hasste Emily an ihr bis ins Mark. Als ob nichts sie je aus der Bahn werfen könnte, als stünde sie noch immer über allen anderen.
Sie biss die Zähne zusammen. Sie würde Nora von ihrem hohen Ross stoßen und zusehen, wie sie im Dreck landete.
"Nora, wovon zum Teufel bist du eigentlich noch so stolz?", zischte Emily verächtlich. "Früher konntest du mit allem prahlen - mit deinem Aussehen, deiner Herkunft! Und was hast du jetzt davon? Alles, was dir gehörte, gehört jetzt mir. Sieh dich an - was ist dir geblieben? Du bildest dir ein, deine Designentwürfe wären so genial? Inzwischen tragen sie alle meinen Namen! Du hältst dich für eine große Erbin? Dein Vater ist tot, und deine Mutter hat mit dem gesamten Vermögen meinen Vater geheiratet. Jetzt bin ich die Tochter der Fincks - und du bist nichts."
Während Emily sprach, blieb Noras Gesicht eine undurchdringliche Maske der Gleichgültigkeit.
Gerade diese Gleichgültigkeit trieb Emily zur Weißglut. Alles, was sie sich mühsam erkämpft hatte, schien Nora nicht im Geringsten zu berühren.
Sie weigerte sich zu glauben, dass Nora nichts mehr zu treffen vermochte.
Lange musterte Emily sie schweigend, bis sich plötzlich ein tückisches Grinsen über ihr Gesicht legte: "Weißt du überhaupt, wie dein Vater wirklich gestorben ist?"
Noras Pupillen verschwanden zu schmalen Schlitzen.
