Kapitel 4
Kapitel 4
Das Morgenlicht fiel durch die cremefarbenen Vorhänge und weckte Amelia aus dem tiefen Schlaf. Für einen Moment vergaß sie alles: das Desaster im Restaurant, Richards kalte Blicke, den Verrat ihrer Kinder, die Brücke.
Dann holte sie die Realität mit voller Wucht ein und raubte ihr den Atem.
Sie setzte sich auf und betrachtete das ihr unbekannte Zimmer mit dem Kingsize-Bett, dem flauschigen Teppich und den teuren Möbeln. Das Gästezimmer von Lucas County.
Ein Klopfen an der Tür erschreckte sie.
„Ja?“ Ihre Stimme klang heiser vom Weinen.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und der Kopf von Frau Parker schaute herein. „Guten Morgen, Frau Amelia. Herr County hat mich gebeten, nachzusehen, ob Sie wach sind. Das Frühstück ist fertig, Sie können jederzeit herunterkommen.“
„Danke. Ich bin gleich da.“
Amelia schlurfte ins Badezimmer und zuckte zusammen, als sie ihre geschwollenen Augen und verfilzten Haare im Spiegel sah. Auf der Ablage standen neue Toilettenartikel, allesamt teure Marken. An der Tür hing ein flauschiger Bademantel.
Sie putzte sich die Zähne, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und zog den Bademantel über ihre geliehene Kleidung, bevor sie nach unten ging.
Bei Tageslicht wirkte das Herrenhaus noch eindrucksvoller. Sonnenlicht strömte durch die hohen Fenster und beleuchtete Kunstwerke, die eigentlich in Museen gehörten. In Kristallvasen auf antiken Tischen standen frische Blumen.
Sie folgte dem Kaffeeduft und fand sich in einer hellen Küche wieder, deren bodentiefe Fenster einen Blick auf gepflegte Gärten freigaben. An der Kücheninsel saß eine junge Frau und las auf einem Tablet.
Als Amelia eintrat, blickte sie auf und ein seltsames Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie hatte Lucas' tiefbraune Augen, doch ihr Gesicht war feiner und zarter. Ihr dunkles Haar fiel ihr in lockeren Wellen über die Schultern.
„Du musst Amelia sein“, sagte das Mädchen. „Ich bin Eva. Lucas’ Tochter.“
„Hallo Eva, schön, dich kennenzulernen.“ Amelia zupfte verlegen an ihrem Bademantel. „Tut mir leid, wie ich aussehe.“
Eva winkte ab. „Mach dir keine Sorgen. Papa hat mir erklärt, was passiert ist.“ Ihr Blick wurde sanfter. „Es tut mir leid.“
Diese einfachen Worte schnürten Amelia einen Kloß in den Hals. Sie nickte, unfähig zu sprechen.
„Kaffee?“, fragte Eva und deutete auf eine glänzende Maschine.
„Bitte.“
Eva reichte ihr eine dampfende Tasse und deutete dann auf die Kücheninsel. „Setz dich. Frau Parker hat genug Frühstück gemacht, um eine ganze Armee zu verköstigen.“
Amelia setzte sich auf einen Hocker und beobachtete, wie Eva Teller mit Eiern, Speck, Obst und Gebäck aufdeckte. Sie nahm sich Toast und Obst, obwohl ihr Magen ihr das Essen erschwerte.
„Lebst du das ganze Jahr über hier?“, fragte sie.
„Ich studiere Internationale Beziehungen von zu Hause aus.“ Eva biss in ein Croissant. „Mein Vater wollte, dass ich auf den Harvard-Campus gehe, aber ich blieb lieber hier.“
„Das ist beeindruckend.“
Eva zuckte mit den Schultern. „Ich mag die Flexibilität. Und nachdem ich mit so vielen Kindermädchen aufgewachsen bin, wollte ich einfach mehr Zeit mit Papa verbringen, wenn er tatsächlich zu Hause ist.“ Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Außerdem kann ich dank der Online-Kurse vermeiden, auf dem Campus als ‚Lucas Countys Tochter‘ bekannt zu sein.“
Amelia nippte an ihrem Kaffee und musterte die junge Frau. Sie strahlte eine stille Zuversicht aus, die Amelia ein seltsames Gefühl der Behaglichkeit gab.
„Wie lange wohnst du schon in diesem Haus?“, fragte Amelia.
„Seit ich zehn bin. Nachdem Mama gestorben ist.“
Die Aussage fiel zwischen ihnen, sachlich, aber gewichtig.
„Es tut mir so leid“, sagte Amelia leise.
Eva nickte mit abwesendem Blick. „Krebs. Zum Glück ging es schnell. Papa hat uns später hierhergebracht.“ Sie sah sich in der Küche um. „Aber hier hat es sich nie wirklich wie zu Hause angefühlt. Zu groß. Zu leer.“
„Es ist wunderschön“, sagte Amelia.
„Schön, ja. Aber leer. Papa arbeitet ständig. Es gab immer nur mich und das Kindermädchen, das gerade beschäftigt war.“ Evas Tonfall war plauderhaft und nicht selbstmitleidig. „Papa hat sich wirklich Mühe gegeben. Er ist zu jedem Schultheaterstück und jedem Geburtstag nach Hause geflogen. Aber ein Imperium zu führen, lässt nicht viel Raum für die Familie.“
Amelias Herz schmerzte. Sie dachte an ihre eigenen Kinder, die alles hatten, was sie ihnen geben konnte – ihre Zeit, ihre Energie und ihre bedingungslose Liebe –, und die sich trotzdem entschieden hatten, sie wegzuwerfen.
„Ich bin sicher, er hat sein Bestes gegeben“, murmelte sie.
„Das hat er.“ Evas Blick traf ihren. „Also waren du und mein Vater schon seit ihrer Kindheit befreundet?“
„Das waren wir“, bestätigte Amelia überrascht. Sie hatte nicht erwartet, dass Lucas so viel verraten hatte. „Wir sind nebeneinander aufgewachsen. Beste Freunde von der Grundschule bis zur Highschool.“
„Und dann?“
„Das Leben ist weitergegangen. Studium. Karriere. Heirat.“ Das Wort schmeckte bitter auf ihrer Zunge.
Eva musterte sie mit beunruhigender Konzentration. „Papa spricht nie über seine Vergangenheit. Als er dich heute Morgen erwähnte, konnte ich es kaum glauben. Er bringt nie Leute hierher.“
Amelia spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. „Die Umstände waren ungewöhnlich.“
„Das habe ich mir gedacht.“ Evas Stimme wurde sanfter. „Er sagte, dein Mann hätte dich verlassen. Dass deine Kinder auf seiner Seite stünden.“
Diese unverblümte Aussage schnitt Amelia wie ein Messer durch die Brust.
„Ja“, brachte sie heraus.
Eva streckte die Hand über die Insel aus, ihre schlanken Finger berührten Amelias Handgelenk – eine leichte, aber tröstende Berührung. „Das ist wirklich schrecklich von ihnen.“
Ein erschrockenes Lachen entfuhr Amelia, das zugleich belustigt und schmerzerfüllt klang. „Ja, das ist es.“
„Wie alt sind sie? Deine Kinder?“
„Julia ist zwanzig. Ethan ist achtzehn. Mia ist gerade fünfzehn geworden.“ Ihre Stimme blieb fest, obwohl es wehtat, ihre Namen auszusprechen, als würde sie auf einen blauen Fleck drücken.
Evas Augenbrauen hoben sich. „Die Älteren sind erwachsen. Das macht es schlimmer.“
„Schlimmer?“
„Wenn sie klein wären, könntest du deinem Mann die Schuld geben. Psychospielchen, Manipulation. Aber in ihrem Alter?“ Eva schüttelte den Kopf. „Sie haben eine Entscheidung getroffen. Eine schreckliche.“
Diese ernüchternde Einschätzung trieb Amelia erneut Tränen in die Augen. Eva hatte recht. Ihre älteren Kinder waren nicht naiv. Sie waren Erwachsene, die wissentlich an ihrer Demütigung mitgewirkt hatten.
„Es tut mir leid“, sagte Eva schnell. „Das hätte ich nicht sagen sollen.“
„Nein, du hast recht.“ Amelia wischte sich die Augen. „Ich habe zwanzig Jahre damit verbracht, für jeden Entschuldigungen zu finden. Vielleicht ist es Zeit, damit aufzuhören.“
Eva lächelte, ein echtes Lächeln, das ihr Gesicht verwandelte. „Ich mag dich, Amelia. Du redest nicht mit mir, als wäre ich ein Kind.“
„Wie alt bist du, achtzehn?“
„Nein, ich werde in drei Monaten achtzehn. Aber die meisten Freunde meines Vaters kneifen mich immer noch in die Wangen und fragen nach der Schule, als wäre ich im Kindergarten.“ Eva verdrehte die Augen. „Sie rechnen alle aus, wie eine Heirat mit ihrem Sohn ihrem Unternehmen nützen würde.“
Amelia lächelte unwillkürlich. „Das kann ich mir vorstellen.“
„Nein, das kannst du nicht.“ Evas Tonfall war neckisch. „Papas Vermögen liegt irgendwo bei fünfzig Billionen. Das macht mich anscheinend zu einem guten Fang.“
Amelia verschluckte sich an ihrem Kaffee. „Fünfzig Billionen?“
„Ein paar Billionen mehr oder weniger.“ Eva zuckte mit den Achseln, als würde es sich um Kleingeld handeln. „Deshalb nehme ich lieber online an Kursen teil. Wegen meines Nachnamens versuchen weniger Leute, mir näherzukommen.“
„Ich hatte keine Ahnung, dass Lucas so …“ Amelia verstummte.
„Reich? mächtig? Einschüchternd für alle außer dir?“ Eva grinste. „Das ist erfrischend. Du hättest sein Gesicht heute Morgen sehen sollen, als er erwähnte, dass er dich gefunden habe. Ich habe ihn noch nie so … menschlich gesehen.“
Im Flur waren Schritte zu hören, und Lucas erschien in der Tür. Er war in einen teuren grauen Anzug gekleidet.
„Guten Morgen“, sagte er und ging zur Kaffeemaschine. „Wie ich sehe, kennt ihr euch.“
„Ja“, bestätigte Eva. „Ich mag sie, Papa. Können wir sie behalten?“
Lucas warf seiner Tochter einen warnenden Blick zu, doch Amelia musste lachen – ein echtes Lachen, das erste seitdem alles auseinandergefallen war.
„Ich bin kein streunender Welpe, Eva.“
„Nein, aber du brauchst eine Unterkunft.“ Evas Augen funkelten schelmisch. „Und hier gibt es zweiunddreißig Zimmer. Ich habe sie einmal gezählt, als mir langweilig war.“
„Eva“, sagte Lucas sanft tadelnd. „Amelia muss noch viel lernen. Setz sie nicht unter Druck.“
„Ich dränge dich nicht. Ich ermutige dich.“ Eva rutschte von ihrem Hocker, schnappte sich ihr Tablet und sagte: „Ich treffe mich übrigens mit Freunden zum Mittagessen. Nett, dich kennenzulernen, Amelia. Ich hoffe, du bist noch da, wenn ich zurückkomme.“
Sie küsste ihren Vater auf die Wange und verließ die Küche. Zurück blieb eine Stille, die sich zugleich unangenehm und angenehm anfühlte.
Lucas nahm Evas Platz auf der Insel ein. „Ich entschuldige mich für meine Tochter. Sie kann … direkt sein.“
„Entschuldige dich nicht. Sie ist wunderbar.“ Amelia meinte es ernst. Durch Evas direkte Art durchbrach der Nebel ihrer Trauer.
„Das ist sie“, stimmte Lucas mit deutlichem Stolz in der Stimme zu. „Manchmal ist sie zu schlau für ihr eigenes Wohl. Sie erinnert mich tatsächlich an dich.“
„Mich?“
„So wie du früher warst. Vorher …“
„Vor Richard.“ Der Name fühlte sich jetzt fremd in ihrem Mund an. „Bevor ich alles für einen Mann aufgegeben habe, der mich fallen ließ.“
Lucas zuckte zusammen. „Ich wollte nicht …“
„Nein, du hast recht.“ Sie schob ihren Teller weg. „Ich habe mich irgendwo unterwegs verloren.“
„Und jetzt?“, fragte Lucas sanft.
„Jetzt?“ Amelia blickte auf ihre Hände, auf den blassen Strich, an dem seit zwanzig Jahren ihr Ehering hing. „Jetzt weiß ich nicht mehr, wer ich bin und was ich als Nächstes tun soll.“
„Du musst es nicht heute herausfinden“, sagte Lucas. „Oder morgen. Oder nächste Woche.“
„Ich kann nicht hier bleiben, Lucas.“
„Warum nicht?“
„Weil ich auf eigenen Beinen stehen muss. Einen Job finden, eine Wohnung.“
„Und das wirst du“, stimmte Lucas zu. „Aber im Moment stehst du unter Schock. Du hast in einer einzigen Nacht alles verloren. Gib dir Zeit zum Atmen.“
Seine Logik war schlüssig, aber irgendwie fühlte sich trotzdem alles falsch an. „Ich will kein Sozialfall sein.“
Lucas stellte seinen Kaffee ab und sah sie intensiv an. „Ist es das, was du glaubst? Charity?“
„Wie würdest du es sonst nennen?“
„Ich nenne es, einer alten Freundin zu helfen. Ich nenne es, das Richtige zu tun.“ Er hielt inne. „Ich nenne es, verlorene Zeit nachzuholen.“
„Was bedeutet das?“
Lucas wandte den Blick ab. „Nichts. Bleib einfach hier, Amelia. Zumindest, bis du dich zurechtgefunden hast. Der Ostflügel ist praktisch leer. Du würdest Eva einen Gefallen tun. Sie beschwert sich ständig, dass außer Frau Parker keine anderen Frauen hier sind.“
Amelia zögerte. Der Gedanke, sich der Welt zu stellen, einen Job und eine Wohnung zu finden und mit vierzig noch einmal von vorne anzufangen, überwältigte sie.
„Eine Woche“, sagte sie schließlich. „Ich bleibe eine Woche. Dann muss ich anfangen, mein Leben zu organisieren.“
Erleichterung überzog Lucas' Gesicht. „Eine Woche. Aber Eva wird versuchen, dich vom Gegenteil zu überzeugen.“
„Deine Tochter ist sehr überzeugend.“
„Du hast keine Ahnung.“ Sein Lächeln wurde wehmütig. „Das hat sie von ihrer Mutter.“
„Eva hat erwähnt, dass sie gestorben ist. Es tut mir leid, Lucas.“
Schmerz blitzte in seinen Augen auf. „Vor zehn Jahren. Brustkrebs. Wir hatten die besten Ärzte, aber …“ Er zuckte mit den Achseln und seine Trauer war deutlich zu spüren. „Sie war innerhalb von sechs Monaten tot.“
„Das muss für euch beide schrecklich gewesen sein.“
„Das war es. Ich habe bei Eva mein Bestes gegeben, aber zwischen der Leitung der Firma und der Erziehung eines trauernden Kindes habe ich viele Fehler gemacht.“
„Sie liebt dich“, sagte Amelia leise. „So viel ist klar.“
„Sie ist ein gutes Kind. Besser, als ich es verdiene.“ Er räusperte sich. „Also, eine Woche. Nach dem Frühstück zeigt dir Frau Parker alles. Fühle dich wie zu Hause.“
„Danke, Lucas. Für alles.“
Seine Augen trafen ihre und er sagte: „Du bist nicht mehr allein, Amelia.“
Die Art, wie er es sagte, mit solch stiller Gewissheit, schnürte ihr die Kehle zu.
„Ich sollte mich anziehen“, sagte sie und fühlte sich unwohl angesichts der Gefühle, die sich in ihr breitmachten. „Ich kann nicht den ganzen Tag im Bademantel herumlaufen.“
„Frau Parker hat ein paar Klamotten für dich bestellt. Nichts Ausgefallenes, nur Basics. Die sollten jetzt in deinem Zimmer sein.“
„Lucas, du musst nicht …“
„Bitte. Lass mich diese eine Sache machen.“
Sie nickte. „In Ordnung. Danke.“
Als sie sich zum Gehen umdrehte, rief Lucas ihr hinterher: „Amelia?“
Sie hielt inne und blickte zurück.
„Ich glaube jedenfalls, dass Richard ein Narr war. Ein verdammter Narr.“
Die Worte umhüllten sie wie eine warme Decke und linderten ihren Schmerz. Sie nickte und verließ die Küche.
Während Amelia durch die Gänge zurückging, spürte sie, wie sich etwas in ihrer Brust regte. Es war ein Gefühl, das sie seit dem Moment, als Richard mit Charlotte das Restaurant betreten hatte, nicht mehr gespürt hatte.
Es war kein Glück. Es war nicht einmal Hoffnung. Es war kleiner und zerbrechlicher.
Es war eine Möglichkeit.
Die Möglichkeit, dass das Ende ihres alten Lebens vielleicht der Beginn von etwas Neuem sein könnte. Etwas, das nur ihr gehörte.
Als Amelia ihr Zimmer erreichte, erblickte sie ihr Spiegelbild in einem vergoldeten Rahmen. Die Frau, die ihr entgegenblickte, war immer noch gebrochen, immer noch verloren, immer noch in Trauer.
Aber zum ersten Mal sah sie nicht besiegt aus.
Eine Woche, hatte sie versprochen. Eine Woche, um Luft zu holen, bevor sie sich wieder der Welt stellte.
Was sie nicht sagte und sich selbst kaum eingestand, war, dass ein Teil von ihr sich bereits davor fürchtete, die Sicherheit dieses Anwesens zu verlassen. Lucas und Eva, die ihr an einem Tag mehr Freundlichkeit entgegengebracht hatten als ihre eigene Familie in Jahren.
Eine Woche. Und dann würde sie beginnen, ihr Leben aus der Asche wieder aufzubauen.
