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Kapitel 5

Kapitel 5

Lucas County stand am Fenster seines Büros und starrte auf den regennassen Garten, doch er sah nichts. Seine Gedanken schweiften 25 Jahre zurück, zu einer Erinnerung, die er nie hatte abschütteln können.

Er sah Amelia, achtzehn Jahre alt, in ihrem Abschlusskleid, wie sie lachend unter der Eiche in ihrem Garten herumtanzte. Ihr kastanienbraunes Haar fing das Sonnenlicht ein und jede ihrer Bewegungen strahlte Freude aus.

An diesem Tag hatte er endlich seinen Mut zusammengenommen und ihr seine Gefühle gestanden. Er hatte schon immer so gefühlt, seit sie zehn Jahre alt waren und sie Billy Sanders geschlagen hatte, weil dieser sich über Lucas’ Secondhand-Kleidung lustig gemacht hatte.

Doch Richard Parker war ihm zuvorgekommen. Der attraktive, selbstbewusste Richard mit seinem Sportwagen und seinem ungezwungenen Charme. Er war mit Rosen und einem silbernen Armband auf Amelias Abschlussfeier erschienen und hatte sie mit geübten Sprüchen und einem strahlenden Lächeln umgehauen.

Lucas hatte vom anderen Ende des Hofes aus beobachtet, wie Amelia unter Richards Blicken errötete. Er hatte den genauen Augenblick gesehen, als sich ihr Herz Richard zuwandte und sich von jeder Vorstellung abwandte, was zwischen ihnen hätte sein können.

Er erzählte es ihr nie. Er konnte es nicht ertragen, sie vor eine Entscheidung zu stellen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, Mitleid in diesen warmen Augen zu sehen, die er so sehr liebte. Also schluckte er sein Geständnis herunter, gratulierte ihnen beiden und ging mit gebrochenem Herzen nach Kalifornien.

Nun ging Lucas zu seinem Schreibtisch, öffnete die unterste Schublade und nahm eine dünne Akte heraus, die mit einem einzigen Buchstaben gekennzeichnet war: A.

Darin befanden sich Fotos, Zeitungsausschnitte und Berichte – die sorgfältige Dokumentation eines aus der Ferne beobachteten Lebens. Amelia bei ihrer Hochzeit, strahlend in weißer Spitze. Amelia mit ihrer neugeborenen Tochter. Amelia war bei Wohltätigkeitsveranstaltungen an Richards Arm zu sehen, doch ihr Lächeln erreichte in späteren Jahren nie ganz ihre Augen.

Was als Möglichkeit begann, den Schmerz des Verlustes zu lindern, indem man sich gelegentlich erkundigte, ob es ihr gut ging, hatte sich im Laufe der Jahre zu etwas Gründlicherem entwickelt. Alle sechs Monate gab es ein diskretes Update von einem Privatdetektiv. Nichts Aufdringliches, nichts, was zu weit ging, nur ... ein Auge darauf.

Er hatte dafür gesorgt, dass sie in Sicherheit war. Dass sie glücklich war. Und dass sich jemand um sie kümmerte.

Er wusste seit Jahren, dass sie nicht wirklich glücklich war. Er hatte miterlebt, wie ihr Lebensmut erlosch, als Richards Karriere Vorrang hatte und sie ihre eigenen Träume für die Familie zurückstellte. Doch sie hatte sich für dieses Leben entschieden und Lucas respektierte ihre Entscheidung. Er beobachtete aus dem Hintergrund, wie sie die Familie gründete, die sie sich immer gewünscht hatte.

Bis vor zwei Tagen, als sein Sicherheitschef ihn anrief und einen dringenden Bericht übermittelte: Richard Parker war gesehen worden, als er mit seiner Sekretärin Charlotte Mills das Restaurant Le Ciel betrat. Eine Stunde später verließ Amelia Carter das Restaurant allein und sichtlich verstört.

Lucas wusste sofort, was passiert war. Richard, der sie nie verdient hatte, hatte endlich sein wahres Gesicht gezeigt.

Er ließ seinen Wagen bereithalten, um zu ihr nach Hause zu fahren und sein langes Schweigen endlich zu brechen. Doch bevor er losfahren konnte, kam ein zweiter Anruf.

„Herr County, Frau Carter ist noch nicht nach Hause gegangen. Der Fahrer ist ihr bis zur Westlake Bridge gefolgt. Sie steht seit über einer Stunde im Regen. Sie sieht nicht … stabil aus, Herr County.“

Lucas war noch nie in seinem Leben so schnell unterwegs gewesen. Noch nie hatte er eine so pure, ursprüngliche Angst verspürt. Er befahl seinem Fahrer, jedes Tempolimit zu überschreiten, während sein Herz so heftig hämmerte, dass er glaubte, es müsse ihm aus der Brust springen.

Als er die Brücke erreichte und ihre schlanke Gestalt am Geländer sah, das Kleid vom Regen am Körper, ihr ausdrucksloses Gesicht voller Verzweiflung, war etwas in ihm zerbrochen. Zwanzig Jahre sorgfältig gepflegter Distanz, Respekt vor ihren Entscheidungen, Beobachtung aus der Ferne – all das war wie weggeblasen.

Er hatte sie gerade noch erreicht, als sie ausrutschte, und packte ihr Handgelenk so fest, dass es blaue Flecken hätte hinterlassen können. In diesem Moment, in dem sie zwischen Leben und Tod schwebte, schwor er sich: Er würde sie nie wieder loslassen. Nicht Richard. Nicht der Verzweiflung. Niemandem und nichts.

Wenn das Schicksal ihm diese zweite Chance gegeben hatte, würde er sie nicht vergeuden.

Und jetzt war sie hier, in seinem Haus, schlief unter seinem Dach. Gebrochen, ja. Am Boden zerstört durch den Verrat. Aber am Leben. Hier. Endlich in Reichweite.

Lucas klappte die Akte zu und legte sie zurück in die Schublade. Er hatte ihr nicht die Wahrheit gesagt: Er hatte genau gewusst, wo sie in dieser Nacht gewesen war. Seine „zufällige“ Begegnung auf der Brücke war alles andere als ein Zufall gewesen. Er konnte ihr nicht sagen, dass er jahrzehntelang über sie gewacht hatte, ein stiller Wächter, von dessen Existenz sie nichts ahnte.

Sie würde ihn für besessen halten. Sogar für gestört.

Vielleicht war er das.

Er trat zum Fenster zurück und drückte seine Handfläche gegen die kühle Scheibe. Der Regen hatte aufgehört und der Garten glitzerte im Nachmittagslicht. Irgendwo im Ostflügel richtete Amelia sich in ihrem vorübergehenden Zufluchtsort ein, ohne die Wahrheit zu ahnen, die in seiner Brust brannte.

Er liebte sie seit seiner Kindheit. Er hatte nie aufgehört, sie zu lieben – weder während des Studiums noch während seiner Ehe mit Evas Mutter. Sie war eine gute Frau, die wusste, dass sie seine zweite Wahl war, und ihn trotzdem liebte. Während er Jahrzehnte lang sein Imperium aufbaute, gründete Amelia mit einem anderen Mann eine Familie.

Und nun war sie durch eine Laune des Schicksals, die für sie grausam, für ihn aber unendlich wertvoll war, hier. Verletzlich. Sie brauchte Schutz und Fürsorge, Dinge, die er ihr endlich geben konnte.

„Eine Woche“, murmelte er in das leere Zimmer und erinnerte sich an ihre Worte vom Frühstück. Sie hatte gedacht, sie würde nur eine Woche bleiben und dann allein in die Welt hinausgehen, um ihr Leben neu aufzubauen.

Doch Lucas hatte zwanzig Jahre auf diese Chance gewartet. Er würde sie sich nicht so leicht entgehen lassen.

Er würde sie nicht zwingen, manipulieren oder unter Druck setzen. Aber er würde ihr Tag für Tag zeigen, wie das Leben an seiner Seite aussehen könnte. Durch Taten, nicht durch Worte, würde er ihr zeigen, wie sehr er sie liebte und verstand.

Vielleicht würde sie mit der Zeit in ihm mehr sehen als nur den Jungen von nebenan, mehr als nur einen alten Freund, der ihr im Sturm Schutz bot.

Die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch summte und riss ihn aus seinen Gedanken.

„Herr County? Ihr nächstes Meeting wartet.“

Lucas straffte die Schultern. „Der drittgrößte Konzern der Welt würde sich nicht von selbst leiten.“

Doch während er sich darauf vorbereitete, Milliardeninvestitionen und strategische Übernahmen zu besprechen, waren seine Gedanken untrennbar mit Amelia verbunden. Mit der fragilen zweiten Chance, die ihm das Schicksal gegeben hatte.

Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und holte ein altes, vergilbtes Foto heraus. Darauf saßen zwei Teenager unter einer Eiche. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter und beide lachten über einen vergessenen Witz. Zwanzig Jahre lang hatte er dieses Foto immer bei sich getragen.

Lucas fuhr mit dem Finger über ihr junges Gesicht. Sie hatte sich damals für Richard entschieden und sich ein Leben ohne ihn aufgebaut. Doch Richard hatte sich ihres Vertrauens, ihrer Liebe und ihrer Treue als unwürdig erwiesen.

Lucas würde nicht denselben Fehler machen. Er würde geduldig sein. Er würde ihr Vertrauen langsam und behutsam zurückgewinnen. Er würde ihr helfen, Richards Verrat zu verarbeiten.

Und wenn sie bereit war, sich erneut zu entscheiden, würde er dieses Mal dafür sorgen, dass sie genau wusste, was er fühlte. So, wie er immer gefühlt hatte.

Dieses Mal würde Lucas County für die Frau kämpfen, die er liebte.

Was auch immer es kosten würde, wie lange es auch dauern würde, er würde sie an seiner Seite behalten.

Er hatte es schon einmal nicht geschafft, sie zu beschützen. Und er würde es nicht noch einmal zulassen.

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