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Kapitel 2

Kapitel 2

Wie erstarrt saß Amelia auf dem Rücksitz des Wagens. Ihr Kopf war leer, doch gleichzeitig voller Gedanken, die sie nicht fassen konnte. Die Lichter der Stadt verschwammen wie Farbflecken in der Dunkelheit vor dem Fenster. Sie hatte dem Fahrer nur zwei Worte gesagt: „Fahr los.“

„Madam?“, riss die Stimme des Fahrers sie aus ihren Gedanken. „Ich muss wissen, wohin wir fahren.“

Amelia blinzelte, als ihr klar wurde, dass sie fast eine Stunde lang im Kreis gefahren waren. Ihre Kehle fühlte sich eng an, als würden unsichtbare Hände sie zudrücken.

„Zur Westlake Bridge“, sagte sie mit hohler Stimme. „Fahr zur Westlake Bridge.“

Der Blick des Fahrers traf ihren im Rückspiegel. Etwas Besorgnis huschte über sein Gesicht, doch er nickte und lenkte den Wagen in Richtung Brücke.

Ihr Handy summte erneut. Benommen starrte sie darauf. Es waren weitere Nachrichten von ihren Kindern.

„Mama, bitte mach es nicht schwerer als nötig.“

„Wir lieben dich immer noch, aber Papa hat diese Chance verdient.“

„Charlotte macht ihn glücklich. Wir wollen einfach, dass alle glücklich sind.“

Glücklich. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider und verspottete sie. Was war mit ihrem Glück? Sie hatte zwanzig Jahre ihres Lebens in eine Familie investiert, die sie schließlich verstoßen hatte, als wäre sie nichts wert.

Der Wagen kam langsam am Rand der Brücke zum Stehen. Es hatte angefangen zu regnen, sanfte Tropfen prasselten gegen die Scheiben.

„Wir sind da, Madam“, sagte der Fahrer sanfter als zuvor. „Soll ich warten?“

Amelia sah ihn an, diesen Fremden, der sich mehr Sorgen machte als ihre eigene Familie. „Nein“, flüsterte sie, „du kannst gehen.“

Er zögerte. „Es regnet. Bist du sicher, dass ich nicht …“

„Bitte“, unterbrach sie ihn, „geh einfach.“

Sie gab ihm Geld, weit mehr, als für die Fahrt nötig gewesen wäre. Er riss die Augen auf, nahm das Geld jedoch kommentarlos entgegen.

„Pass auf dich auf, Madam“, sagte er, als sie in den Regen hinaustrat.

Amelia antwortete nicht. Sie stand auf dem Bürgersteig und sah zu, wie die Rücklichter des Wagens in der Nacht verschwanden. Dann wandte sie sich mit langsamen, schweren Schritten der Brücke zu.

Vor ihr erstreckte sich die Westlake Bridge, deren Lichter sich im Wasser spiegelten. Zu dieser späten Stunde fuhren nur wenige Autos vorbei. Sie ging bis zur Mitte des Fußwegs. Mit jedem Schritt wurde ihre Kleidung schwerer, da sie vom Regen durchnässt wurde.

Sie erreichte das Geländer und umklammerte es mit beiden Händen. Das Metall fühlte sich kalt auf ihrer Haut an. Unter ihr schäumte das dunkle Wasser wütend und unruhig.

Zwanzig Jahre.

Zwanzig Jahre lang hatte sie mit Richard ein Bett geteilt, ihm morgens einen Abschiedskuss gegeben und abends auf seine Heimkehr gewartet. Sie plante Überraschungspartys, pflegte ihn während seiner Krankheiten, feierte seine Beförderungen und tröstete ihn bei Rückschlägen.

Zwanzig Jahre Kindererziehung. Von nächtlichem Füttern und Windelnwechseln. Von aufgeschürften Knien und Schulaufführungen. Von Hausaufgabenhilfe und Fahrstunden. Von College-Bewerbungen und Abschlussfeiern.

Zwanzig Jahre ihres Lebens, die sie freiwillig, bereitwillig und liebevoll gegeben hat.

Und im Gegenzug?

„Deine Sachen sind gepackt. Das Haus gehört jetzt Charlotte.“

Ein kaum hörbares Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, übertönt vom Regen und dem gelegentlichen Vorbeifahren eines Autos hinter ihr. Ihre Beine zitterten und drohten, unter ihr nachzugeben.

Sie blickte auf ihre Hände, auf den Ehering, der noch immer an ihrem Finger steckte. Der Diamant fing das Licht ein und funkelte trotz der Dunkelheit um ihn herum. Sie drehte ihn ab und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger.

Dieser winzige goldene Kreis hatte einst alles für sie bedeutet. Ein Versprechen. Eine Zukunft. Ein Leben, das auf Liebe und Vertrauen basierte.

Jetzt war all das nur noch eine Erinnerung an ihre Dummheit.

Sie zog ihren Arm zurück, bereit, ihn ins Wasser zu werfen, doch dann hielt sie etwas davon ab. Nicht Sentimentalität – die war in dem Moment zerstört worden, als Richard mit Charlotte das Restaurant betrat. Stattdessen formte sich ein kalter, harter Gedanke in ihrem Kopf: Dieser Ring war Geld wert. Geld, das sie jetzt brauchen würde, da sie nichts mehr hatte.

Sie steckte ihn in ihre Tasche.

Der Regen wurde stärker und klebte ihr die Haare an Gesicht und Hals. Sie machte sich nicht die Mühe, ihn wegzuwischen. Was machte es schon, dass sie nass war? Was machte überhaupt noch etwas aus?

Ihr Handy vibrierte erneut. Sie holte es heraus und blinzelte durch den Regen auf das Display.

Richard schrieb: „Der Fahrer sagte, er habe dich an der Westlake Bridge abgesetzt. Was machst du dort?”

Also hatte er sie verfolgt. Selbst jetzt, wo er ihr alles genommen hatte, wollte er sie kontrollieren.

Sie antwortete nicht. Stattdessen scrollte sie durch ihre Kontakte und suchte nach jemandem, den sie anrufen konnte – einem Freund, einem Verwandten oder irgendjemandem, der sie zumindest für heute Nacht aufnehmen könnte.

Aber wem? Die meisten ihrer Freunde waren auch Richards Freunde oder die Frauen seiner Kollegen. Ihre Eltern waren vor Jahren gestorben. Ihre Schwester lebte mit ihrer eigenen Familie am anderen Ende des Landes.

Sie war allein. Ganz und gar allein.

Diese Erkenntnis traf sie mit voller Wucht und ließ sie vom Geländer zurückstolpern. Sie war so viele Jahre lang Richards Frau und die Mutter der Kinder gewesen, dass sie vergessen hatte, wer sie eigentlich war. Einfach Amelia.

Sie hatte keine berufliche Perspektive. Sie hatte keine Fähigkeiten, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Sie hatte kein Zuhause, in das sie zurückkehren konnte. Und keine Familie, die sie unterstützte.

Mit vierzig Jahren musste sie ganz von vorne anfangen.

Das Gewicht erdrückte sie. Ihre Knie gaben nach und sie sank auf den nassen Beton des Brückenstegs. Der Regen vermischte sich mit ihren Tränen, sodass sie nicht mehr unterscheiden konnte, was was war.

Ihr Telefon summte erneut. Und wieder. Und wieder.

Richard: „Antworte mir, Amelia.“

Richard: „Du bist kindisch.“

Richard: „Die Kinder machen sich Sorgen.“

Sie lachte, ein gebrochenes Lachen, das über die leere Brücke hallte. Die Kinder waren besorgt? Dieselben Kinder, die von der Affäre ihres Vaters gewusst und ihr niemals etwas gesagt hatten? Die Kinder, die ihr Exil mitgeplant hatten?

Ihr Lachen verwandelte sich in Schluchzen, das tief aus ihrer Brust kam. Sie kuschelte sich zusammen, schlang die Arme um ihren Bauch, als könnte sie sich körperlich zusammenreißen, während in ihr alles auseinanderfiel.

Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Sie hätte Minuten oder Stunden dort sitzen können, sie wusste es nicht. Der Regen fiel weiter, jetzt kälter, und ihr Körper zitterte unkontrolliert.

Schließlich verstummte ihr Schluchzen und hinterließ eine hohle Leere. Auf wackeligen Beinen stand sie auf und ging zurück zum Geländer. Das Wasser unter ihr wirkte nun dunkler und bedrohlicher. Oder vielleicht auch einladender.

Sie beugte sich nach vorne, sodass ihr Oberkörper über der Kante hing. Das Metallgeländer bohrte sich in ihren Bauch, doch sie spürte es kaum. Was bedeutete schon ein weiterer Schmerz, wenn ihr gesamter Körper bereits zerschmettert war?

Es wäre so einfach. Nur ein Moment des Mutes, ein Stoß über die Kante, und alles wäre vorbei. Kein Schmerz mehr. Kein Verrat mehr. Kein Neuanfang mit 45 Jahren mehr.

Nur Frieden. Ruhe. Ein Ende dieser überwältigenden Qual, die sie zu verzehren drohte.

Sie schloss die Augen und lockerte ihren Griff um das Geländer. Der Wind peitschte um sie herum, zerrte an ihren Kleidern und Haaren, als wollte er sie ermutigen, loszulassen.

Sie dachte an ihre Kinder. Nicht an die, die sie jetzt waren – diese Fremden, die sie betrogen hatten –, sondern an die, die sie einmal gewesen waren. Julia mit ihrem lückenhaften Lächeln und den Zöpfen. Ethan, der immer ernst und freundlich war und ihr Wildblumen aus dem Garten brachte. Mia mit ihrem ansteckenden Lachen und ihrer grenzenlosen Energie.

Sie dachte an das Leben, das sie aufgebaut hatte. An das Zuhause, das sie geschaffen hatte. An die Liebe, die sie so freigiebig und vollkommen gegeben hatte.

Und sie dachte an Richard. Nicht an den Mann, der ihr im Restaurant gegenübergesessen hatte – kalt und distanziert –, sondern an den Mann, in den sie sich verliebt hatte. Den Mann, der sie einst angesehen hatte, als wäre sie sein Ein und Alles.

Etwas in ihr veränderte sich. Es war keine Heilung, das würde viel länger dauern, sondern ein winziger Funke von etwas anderem. Es fühlte sich fast wie Wut an.

Warum sollte sie diejenige sein, die verschwindet? Warum sollte sie diejenige sein, die aufgibt? Warum konnten sie ihr Leben glücklich und unbeschwert leben, während ihr nur noch eine traurige Erinnerung blieb?

Sie umklammerte das Geländer fester, ihre Knöchel wurden weiß vor Anstrengung. Diese Genugtuung würde sie ihnen nicht gönnen. Sie würde sie nicht gewinnen lassen.

Doch dieser Gedanke kam zu spät. Ihr Fuß rutschte auf dem nassen Beton aus und einen schrecklichen Moment lang spürte sie, wie sie nach vorne fiel. Das Geländer reichte nicht mehr aus, um sie auf der Brücke zu halten.

Die Zeit verging langsamer. Sie sah das Wasser unter sich, dunkel und unerbittlich. In der Ferne hörte sie eine Autohupe. Sie spürte den Regen auf ihrem Gesicht, kalt und unerbittlich.

So sollte es nicht enden. Nicht so. Nicht wegen ihnen.

Gerade, als ihr Körper über die Kante kippte, schnellte eine Hand hervor und packte ihr Handgelenk mit überraschender Kraft. Der Griff war fest und unnachgiebig. Die Hand eines Mannes.

Sie keuchte, ihr Körper schwebte für einen schrecklichen Moment zwischen Leben und Tod, während das dunkle Wasser sie noch immer von unten rief. Während sie baumelte, peitschte ihr Regen ins Gesicht. Ihr Schicksal lag in den Händen eines Fremden.

Die Hand zog, ihre Muskeln spannten sich gegen ihr Gewicht. Amelia fühlte, wie sie vom Abgrund zurückgerissen wurde – zurück in eine Welt, der sie nicht länger angehören wollte.

Ihre von Regen und Tränen verschleierten Augen konnten im schwachen Licht der Brücke nichts erkennen außer der Silhouette eines Mannes. Seine Hand war trotz der kalten Nacht warm und hielt sie mit einer Entschlossenheit fest, die sie nicht verstehen konnte.

Als ihr Körper schwankend wieder zur Brücke zurückkehrte, wurden Amelias Gedanken von widersprüchlichen Gefühlen erfüllt. Erleichterung. Enttäuschung. Wut. Verwirrung.

Warum konnten sie sie nicht einfach alle gehen lassen?

Die Finger des Mannes schlossen sich fester um ihr Handgelenk – wie ein Anker im Sturm ihres Lebens.

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