Ein stürmischer Tag
Manchmal beginnt ein Sturm nicht mit Regen oder Blitz, sondern mit einem Gefühl. Es war ein solches Gefühl, das sich an diesem Morgen über die Cherry Tree Lane legte – ein nervöses Flattern, das in den Knochen der Menschen vibrierte, ohne dass sie es wirklich bemerkten. Der Wind war noch nicht gekommen, aber die Luft war schwer, wie eine unausgesprochene Frage.
Annabel und Georgie saßen am Frühstückstisch. Ihre Müslischalen standen unangetastet vor ihnen, und die Milch begann schon, diesen dünnen Film zu bilden, der immer etwas eklig aussieht. Michael Banks, ihr Vater, blätterte hektisch durch einen Stapel Papiere, während er gleichzeitig versuchte, einen Schluck von seinem inzwischen kalten Tee zu nehmen.
„Die Arbeit, immer die Arbeit“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem. Jane Banks, Michaels Schwester, stand am Fenster. Sie hatte die Arme verschränkt und starrte nach draußen, wo sich die Bäume kaum regten. Doch selbst die scheinbare Stille schien irgendwie geladen zu sein, wie eine Pause zwischen zwei Noten, die viel zu lange dauert.
„Es fühlt sich an, als würde etwas kommen“, sagte sie leise.
„Etwas wie was?“ fragte Georgie, der inzwischen sein Löffelspiel erfand und das Metall gegen die Tischkante klopfen ließ.
„Etwas Großes“, sagte Jane, ohne sich umzudrehen. Das erste Zeichen des Sturms kam gegen Mittag. Es war kein Donner, kein Regen, sondern ein Windstoß, der so plötzlich und heftig war, dass er die Fenstervorhänge nach innen drückte, obwohl die Fenster geschlossen waren. Annabel, die mit einem Buch auf dem Sofa saß, schreckte auf, und Georgie ließ vor Schreck eine Handvoll Spielzeugautos fallen, die er im Wohnzimmer verteilt hatte.
„Was war das?“ fragte Annabel.
„Nur der Wind“, sagte Michael aus dem Arbeitszimmer, aber selbst er klang nicht überzeugt. Draußen begann der Wind stärker zu werden, und die Welt veränderte sich mit ihm. Die Blätter auf den Bäumen tanzten nicht mehr, sie kämpften – gegen unsichtbare Hände, die an ihren Ästen zerrten. Ein Papierhut, den ein Kind vor dem Nachbarhaus auf den Gehweg gestellt hatte, wurde vom Wind ergriffen und flog wie ein gespenstisches Gesicht die Straße hinunter. Der Himmel, der am Morgen noch hell gewesen war, wurde von einer grauen Wand verschluckt. Es war keine gewöhnliche Wolkendecke, sondern etwas Lebendiges, etwas, das sich bewegte und formte, als wäre es in einem Wettlauf mit dem Wind selbst.
„Das ist nicht normal“, murmelte Jane, als sie zum dritten Mal die Gardine zurückzog und nach draußen spähte.
Plötzlich hörte man ein Krachen, gefolgt von einem Schrei. Michael rannte zum Fenster, und was er sah, ließ ihn erstarren. Ein altes Werbeschild, das früher an der Straßenecke gestanden hatte, war vom Wind umgestoßen worden und lag nun zerknittert auf dem Gehweg. Eine Frau hatte den Schreckensruf ausgestoßen, stand aber jetzt sicher auf der gegenüberliegenden Straßenseite und klopfte sich den Staub von den Kleidern.
„Wir sollten vielleicht die Fenster verriegeln“, sagte Michael schließlich, obwohl niemand antwortete. Der Sturm brach endgültig los, als die Dämmerung hereinbrach. Es war, als hätte die Welt auf diesen Moment gewartet. Der Wind heulte, als hätte er etwas zu beweisen, und die Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben wie Finger, die Einlass verlangten. Annabel und Georgie hatten sich auf das Sofa gekuschelt, während Jane versuchte, die Kinder mit einer Geschichte abzulenken, doch ihre Stimme ging im Getöse des Sturms unter. Michael ging rastlos durch das Wohnzimmer, immer wieder zu den Fenstern blickend, als würde er erwarten, dass etwas – oder jemand – auftauchte.
Dann kam der seltsamste Moment des ganzen Tages. Mitten im Sturm, als der Wind am lautesten heulte und der Regen so dicht war, dass man kaum noch die Straße erkennen konnte, fiel plötzlich eine gespenstische Stille über die Cherry Tree Lane. Der Wind verstummte, der Regen hörte auf, und die Luft war so still, dass es fast wehtat. Jane hielt mitten im Satz inne und sah Michael an. „Das ist… merkwürdig.“ Bevor jemand antworten konnte, kam ein einziges, kräftiges Klopfen an die Tür. Annabel sprang auf, Georgie klammerte sich an Jane, und Michael blinzelte ungläubig. Wer konnte mitten in diesem Sturm vor der Tür stehen?
„Ich geh schon“, sagte Michael, obwohl seine Stimme einen Hauch von Unsicherheit verriet. Er ging zur Tür, zog sie langsam auf – und dort, vor ihm, stand sie. Ihr Mantel war makellos trocken, ihr Schirm hielt sie mit Leichtigkeit in der rechten Hand, und ihre Lippen formten das kleinste, wissendste Lächeln der Welt.
„Guten Abend“, sagte Mary Poppins. „Ich habe gehört, hier wird jemand gebraucht.“
