Der vergessene Drachen
Teil 1. Der Ruf nach Magie
Manchmal haben alte Dinge eine Seele. Das klingt verrückt, oder? Aber es stimmt. Es gibt Spielsachen, die in den Regalen verstauben, Möbel, die jahrelang nicht benutzt werden, und irgendwo tief in ihrem Inneren sammeln sie all die Erinnerungen, die Menschen in ihrer Nähe hinterlassen haben. Ein Löffel, den eine Mutter zum Füttern eines Kindes benutzt hat, eine alte Uhr, die den letzten Herzschlag eines Menschen gezählt hat. Und dann gibt es Drachen. Der Dachboden des Banks-Hauses war ein Ort, an dem alte Dinge lebten. Es war dunkel, eng und muffig, der perfekte Platz für die Geister von Spielzeugen und Geschichten, die man vergessen hatte. Staub lag auf jedem Balken, und Spinnweben spannten sich wie Vorhänge über alte Kisten. Doch zwischen all den zerknitterten Pappkartons, den verblichenen Büchern und den rostigen Kinderwagen lag er. Der Drache.
Er war nicht groß, dieser Drache. Vielleicht einen halben Meter breit, mit einem bunten Stoffkörper, der einmal leuchtend rot gewesen sein musste. Jetzt war das Rot mehr ein schmutziges Rosa, von der Zeit und der Dunkelheit ausgeblichen. Seine Schnur, die ihn einst hoch in den Himmel getragen hatte, war verheddert und zerfranst, und ein Flügel hing lose herab, als hätte er die Lust am Fliegen verloren. Doch selbst so, inmitten all des Staubs und der Dunkelheit, strahlte er eine gewisse Traurigkeit aus – eine stille Bitte, die niemand hörte. Niemand außer Annabel Banks. Annabel hatte nicht vorgehabt, auf den Dachboden zu gehen. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust auf irgendetwas. Es war einer dieser Nachmittage, an denen sich die Zeit hinzog wie ein zäher Kaugummi, und die Welt fühlte sich an, als wäre sie in Schwarz-Weiß gedruckt. Doch dann hatte sie Georgie, ihren kleinen Bruder, dabei erwischt, wie er die Falltür zum Dachboden öffnete.
„Du darfst da nicht hoch!“ hatte sie gesagt. Ihre Stimme war streng, so wie eine große Schwester es sein sollte. Doch Georgie hatte sie nur angelächelt – dieses Lächeln, das bedeutete, dass er nicht eine Sekunde lang daran dachte, auf sie zu hören – und war trotzdem hinaufgeklettert. Also folgte sie ihm, knurrend und fluchend, während sie sich an den rutschigen Sprossen der Leiter festklammerte. Der Dachboden war dunkler, als sie erwartet hatte. Es roch nach altem Holz und verrottendem Papier, und das Licht, das durch die schmalen Ritzen fiel, schien kaum genug, um die Schatten zu vertreiben.
„Georgie? Wo bist du?“
„Hier drüben!“ Seine Stimme kam aus einer Ecke, in der sich ein Berg von alten Kisten türmte. Und dann sah sie es. Der Drache lag halb verborgen unter einem Stapel zerfetzter Zeitungen, doch etwas an ihm zog ihren Blick magisch an. Vielleicht war es die Art, wie der Staub auf seinem Stoff glitzerte, oder die eigenartige, fast erwartungsvolle Haltung, in der er lag – wie ein Hund, der darauf wartete, dass sein Besitzer zurückkehrt. Annabel kniete sich hin, zog den Drachen vorsichtig hervor und strich über das brüchige Material.
„Was ist das?“ fragte Georgie, der plötzlich neben ihr stand.
„Ein Drache“, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam leise, als hätte sie Angst, etwas zu wecken.
„Können wir damit fliegen?“
Annabel wollte „Nein“ sagen. Sie wollte ihm erklären, dass der Drachen viel zu alt, viel zu kaputt war. Aber als sie ihn in den Händen hielt, spürte sie etwas. Es war, als würde eine kleine, kalte Hand ihre berühren, etwas, das keine Worte hatte, aber dennoch sprach.
„Vielleicht“, sagte sie schließlich. Und in diesem Moment, tief in den Schatten des Dachbodens, rührte sich ein Windzug – ein Wind, der nicht von außen kam, sondern aus dem Drachen selbst. Es war nur ein Hauch, kaum mehr als ein Flüstern, aber Annabel spürte ihn. Und wenn sie sich umgesehen hätte, hätte sie bemerkt, dass der Staub für einen Augenblick in der Luft zu tanzen schien.
Georgie kicherte. „Ich wette, wir kriegen ihn fliegen.“
Annabel wusste nicht, warum ihr Herz schneller schlug, aber sie nickte. Vielleicht war es der Wind. Vielleicht war es die Stimme, die tief in ihrem Inneren flüsterte: Es ist Zeit zu fliegen.
