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Das Haus in der Cherry Tree Lane

Es gibt Häuser, die mehr sind als Stein und Holz. Sie atmen. Sie haben Geheimnisse in ihren Wänden und Erinnerungen in ihren Dielen versteckt. Das Haus in der Cherry Tree Lane Nummer Siebzehn war so ein Haus. Es hatte alles gesehen: Kinderlachen, Streitgespräche, stürmische Tage und stille Nächte. Und obwohl es in die Jahre gekommen war, schien es, als würde es immer noch zuhören – als könnte es fühlen, wie sich die Menschen darin bewegten, wie sie kamen und gingen.

Doch das Haus war nicht mehr das Gleiche wie früher.

Mary Poppins stand auf der Türschwelle und betrachtete das Gebäude mit kritischem Blick. Sie nahm jede Ritze wahr, jede schief hängende Dachpfanne, jede Stelle, an der der Lack von der Tür abgeblättert war. In der Abenddämmerung wirkte das Haus nicht nur alt, sondern irgendwie müde.

„Ein Jammer“, murmelte sie, während sie ihren Regenschirm zuklappte und ihn entschlossen abklopfte. Michael Banks, der immer noch ungläubig hinter ihr stand, räusperte sich. „Ähm, Miss Poppins... Sie sind wirklich…?“

„Natürlich bin ich es“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Wer sonst? Und jetzt gehen Sie bitte zur Seite. Sie lassen die Kälte herein.“

Sie trat mit der Selbstverständlichkeit einer Person ein, die genau wusste, dass sie willkommen war, auch wenn niemand es ausgesprochen hatte. Ihre Absätze klackten auf den abgenutzten Holzdielen des Flurs, und Michael folgte ihr, unfähig, etwas anderes zu tun. Das Haus war eine Mischung aus alt und neu, Vergangenheit und Gegenwart. Die Möbel, die einst dem strengen Mr. Banks gehört hatten, standen immer noch da – der schwere, dunkle Schreibtisch, der Stehlampenschirm, der nie wirklich zur Tapete gepasst hatte. Aber dazwischen hatten sich die Spuren der neuen Generation eingeschlichen. Ein Regal mit Kinderspielzeug, ein paar bunte Zeichnungen an der Wand, die mit Klebeband befestigt waren. Es war, als würde das Haus versuchen, sich zu erinnern, wie es war, glücklich zu sein.

Mary Poppins ging durch den Flur, als würde sie jede Ecke, jedes Möbelstück prüfen. Ihre Augen glitten über den großen Spiegel, der leicht schief hing, und sie zog eine Augenbraue hoch.

„Ich sehe, Ordnung ist hier ein rares Gut geworden“, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem.

„Entschuldigen Sie?“ fragte Michael, der sich plötzlich schuldig fühlte, obwohl er nicht genau wusste, warum. Mary drehte sich zu ihm um, und ihr Blick war so durchdringend wie ein Röntgenstrahl. „Es war einmal ein Haus, das voller Freude war, Mr. Banks. Und jetzt…“ Sie deutete auf die staubigen Bilderrahmen an der Wand. „Jetzt hat es vergessen, wie man atmet.“

„Es war… schwierig“, sagte Michael leise. „Nach… nach dem Verlust meiner Frau…“

Mary hielt inne. Für einen Moment schien es, als würde sie etwas sagen, doch sie ließ es bleiben. Stattdessen wandte sie sich ab und ging ins Wohnzimmer. Dort saßen Annabel und Georgie, die sie mit großen Augen anstarrten. Georgie hielt immer noch den Drachen aus dem Dachboden in den Händen, und Marys Blick fiel sofort darauf.

„Ah, da ist er ja“, sagte sie und klatschte einmal in die Hände. „Der alte Freund. Ich habe mich gefragt, wann er wieder auftaucht.“

„Kennen Sie den Drachen?“ fragte Georgie ungläubig.

„Natürlich kenne ich ihn“, sagte Mary, als wäre das die dümmste Frage der Welt. „Er hat Geschichten erlebt, die ihr euch nicht einmal vorstellen könnt. Und er hat mehr Mut bewiesen, als manch ein Mensch.“

Annabel runzelte die Stirn. „Es ist nur ein Drachen.“ Mary Poppins drehte sich zu ihr um und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Nur ein Drachen?“ Sie sprach die Worte aus, als würden sie nach etwas schmecken, das sie nicht mochte. „Mein liebes Kind, nichts ist nur etwas. Alles hat eine Bedeutung, wenn man nur genau genug hinsieht.“

Das Wohnzimmer schien in diesem Moment heller zu werden, als hätte jemand die Glühbirne gewechselt. Die Kinder sahen sich an, verwirrt, aber auch irgendwie fasziniert. Michael stand in der Tür und fühlte sich, als würde er plötzlich wieder ein kleiner Junge sein, der Mary Poppins zum ersten Mal begegnete.

„Nun“, sagte Mary schließlich und wandte sich wieder an Michael. „Wo ist das Kinderzimmer? Es gibt viel zu tun, bevor ich anfange.“

„Anfangen womit?“ fragte Michael.

Mary zog ihren Hut ab, schüttelte ihn aus, obwohl kein Staub herauskam, und lächelte ihn an – dieses kleine, schiefe Lächeln, das nichts verriet und doch alles versprach.

„Das Haus zu erinnern, wie man lebt, natürlich.“

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