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Ein neuer Morgen

Man sagt, der Morgen bringt neue Möglichkeiten. Aber in der Cherry Tree Lane Nummer Siebzehn begann der neue Tag, als wäre er ein müder, alter Bekannter, der sich widerwillig zum Frühstück schleppte. Die Sonne kämpfte sich durch die Vorhänge, und der Wind der letzten Nacht war verschwunden, hinterließ aber die Art von Stille, die noch immer nachklingt, wie der letzte Ton eines Liedes. Mary Poppins war früh auf. Sie war immer früh auf. Für jemanden wie sie, der Dinge erledigt, während die Welt noch schläft, schien der Morgen der perfekte Verbündete zu sein. In der Küche summte sie leise ein Lied – etwas, das so alt war, dass die Melodie fast vergessen schien. Der Teekessel pfiff, und der Duft von frischem Tee mischte sich mit dem sanften Brutzeln von Spiegeleiern in der Pfanne.

„Zeit aufzustehen“, murmelte sie, mehr zum Raum als zu jemand Bestimmtem, und ihre Worte schienen zu den Wänden zu kriechen, die Treppe hinauf, direkt in die Ohren derer, die noch schliefen. Annabel war die Erste, die die Augen öffnete. Es war ein seltsames Erwachen – nicht langsam und träge, sondern wie ein plötzliches Einschalten eines Lichtschalters. Sie wusste nicht warum, aber sie fühlte sich... anders. Als hätte die Luft in ihrem Zimmer über Nacht gewechselt, sauberer, klarer, voller Möglichkeiten.

„Annabel!“ Georgies Stimme kam von der Tür. Er stand schon vollständig angezogen dort, den Drachen unter dem Arm, und grinste sie an. „Frühstück ist fertig! Mary hat gesagt, wir sollen runterkommen.“

Annabel blinzelte. „Wer hat was gesagt?“

„Mary Poppins natürlich!“ Georgie verdrehte die Augen, als wäre das offensichtlich. Es dauerte einen Moment, bis Annabel sich daran erinnerte. Die Frau, die plötzlich aufgetaucht war. Der Sturm. Die seltsame Ruhe, die sie mitgebracht hatte, als hätte sie die Welt selbst angehalten.

„Das war kein Traum?“ fragte sie leise, mehr zu sich selbst. Georgie lachte. „Natürlich nicht! Sie ist unten und macht Frühstück. Beeil dich!“ Annabel warf sich schnell in ihre Kleider und folgte Georgie hinunter in die Küche, wo sie etwas sah, das sie nie erwartet hätte: ein perfekt gedeckter Tisch. Es war nicht nur das Essen, obwohl das schon beeindruckend genug war – goldbrauner Toast, Spiegeleier, die aussahen, als kämen sie aus einem Kochbuch, Marmeladengläser in allen möglichen Farben. Es war die Art, wie alles arrangiert war, als wäre es ein Kunstwerk. Sogar die Servietten waren kunstvoll gefaltet, in kleinen, spitzenartigen Mustern, die wie Blumen aussahen. Mary Poppins stand am Herd, elegant wie immer, in einer frisch gebügelten Schürze, die seltsamerweise weder zu ihrer restlichen Kleidung noch zur Küche passte – und doch irgendwie perfekt war.

„Guten Morgen“, sagte sie und drehte sich um, ein Tablett mit dampfenden Tassen Tee in der Hand. „Ihr seid spät dran.“

„Spät?“ Georgie runzelte die Stirn. „Es ist noch nicht einmal sieben Uhr.“

Mary stellte das Tablett ab und sah ihn streng an. „Pünktlichkeit, mein Lieber, ist nicht nur eine Tugend, sondern eine Kunst. Und wie jede Kunst will sie gepflegt werden. Jetzt setzt euch.“

Annabel und Georgie setzten sich, beide ein wenig eingeschüchtert, aber auch fasziniert. Mary Poppins ließ sich nicht von der Eile der Kinder beeindrucken. Jeder Handgriff, den sie machte, war präzise, als würde sie eine Choreografie tanzen, die nur sie kannte.

„Papa ist noch im Bett“, sagte Georgie schließlich, während er begann, ein großes Stück Toast zu bestreichen.

Mary nickte knapp. „Das dachte ich mir. Nun, er wird kommen, wenn er bereit ist. Erwachsene sind wie alte Uhren – manchmal brauchen sie nur einen sanften Stoß, um wieder zu laufen.“

Annabel kicherte, konnte aber nicht leugnen, dass Mary Poppins recht hatte. Ihr Vater war in letzter Zeit stehen geblieben – nicht körperlich, sondern in seinem Geist. Es war, als hätte er das Leben nur noch beobachtet, ohne daran teilzunehmen.

„Was machen wir heute?“ fragte Annabel schließlich, während sie sich eine Tasse Tee einschenkte. Mary Poppins legte die Hand ans Kinn, als würde sie nachdenken, aber ihr Lächeln verriet, dass sie die Antwort längst kannte. „Nun, das hängt ganz davon ab, was der Tag bringt. Aber eines ist sicher: Er wird nicht langweilig.“

Georgie wollte gerade protestieren – er wollte wissen, ob sie mit dem Drachen fliegen gehen konnten –, als plötzlich ein leichter Windstoß durch die Küche fuhr. Er war kaum spürbar, aber dennoch genug, um die Servietten auf dem Tisch ein wenig flattern zu lassen. Mary Poppins sah zum Fenster, und für einen Moment wirkte sie sehr still. Dann schloss sie langsam ihre Hände vor sich, als würde sie eine unsichtbare Entscheidung treffen.

„Was war das?“ fragte Annabel. Mary sah sie an, ihr Lächeln ruhig, aber voller Andeutungen. „Das, meine Liebe, war der Morgen, der uns ruft. Also zieht euch warm an. Wir haben Arbeit vor uns.“

Sie ließ keinen Raum für Diskussionen. Bevor die Kinder begriffen, was geschah, war sie schon aufgestanden, hatte ihren Schirm genommen und stand an der Haustür, bereit, den Tag zu begrüßen – oder vielleicht, wie es schien, den Tag herauszufordern. Und so begann der erste Morgen mit Mary Poppins, und obwohl noch niemand wusste, was passieren würde, war eines klar: Es würde nichts Gewöhnliches sein.

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