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Kapitel 1

Hajar

Ich saß auf dem Boden im Kinderzimmer und sah zu, wie Aydar fleißig eine Straße für seine Autos baute. Seine kleinen Finger legten die Teile geschickt in gleichmäßige Reihen. Er ist erst fünf Jahre alt, aber manchmal scheint es, als sei er älter als ich. Ein für sein Alter ungewöhnlich weiser Junge, der zu viel versteht.

Er ruft mich nicht zum Spielen, bittet mich nicht, mir seine gebauten Brücken und Tunnel anzuschauen. Er weiß, dass ich müde bin. Er weiß es immer. Und aus irgendeinem Grund schmerzt dieses Wissen in seinen Augen mehr als alle Worte.

Khalifa schnarchte in ihrem Bettchen. Ihre kleine Hand umklammerte die Ecke ihrer Decke. Ich sah sie an und spürte einen Kloß im Hals. So winzig, so hilflos. Und ich? Ich weiß nicht mehr, wann ich sie das letzte Mal einfach so in den Armen gehalten habe, ohne mich beeilen zu müssen. Ich habe ständig das Gefühl, dass ich etwas erledigen muss – kochen, aufräumen, entscheiden. Alles für die Kinder. Alles für das Haus.

Und Zafar?

Er ist heute Morgen schweigend an mir vorbeigegangen. Hat mich nicht einmal angesehen. Hat sich nicht einmal verabschiedet. Nur die Haustür schlug zu. Er versucht nicht einmal mehr, so zu tun, als wäre es ihm egal.

Ich putzte lange in der Küche, bis ich zufällig mein Spiegelbild im Flur sah. Früher fand ich es schön – es nahm fast die ganze Wand ein. Zafar hatte es für mich bestellt und gesagt, ich solle mich in voller Größe sehen können. Ich erinnere mich, wie ich mich in meinem neuen Kleid vor ihm drehte und er mich stolz ansah.

Jetzt ist der Spiegel mein Feind.

Ich warf einen kurzen Blick darauf und wandte mich sofort ab. Aber für eine Sekunde sah ich alles. Ein ausgebeintes T-Shirt, eine zu große Hose, meine Haare zu einem Knoten zusammengebunden, der längst auseinandergefallen war. Dunkle Ringe unter den Augen, blasse, müde Haut.

Wer bist du jetzt?

Wann bin ich diese Frau geworden?

Es gab keine Antwort. Nur eine dumpfe Leere in mir.

Ich ging zurück zum Waschbecken und wusch weiter das Geschirr, als könnte ich diese Last von meinen Schultern waschen. Aber sie saß zu tief in mir.

Nach der Geburt von Khalifa hatte ich zugenommen, und das war nun ein Grund für seine Spott. „Wie wäre es, wenn du dich mal um dich selbst kümmerst?“, warf er mir zwischenbei zu. „Findest du das wirklich normal?“

Zuerst versuchte ich es zu erklären: die Kinder, das Haus, die Müdigkeit. Aber jedes Mal trafen seine Worte ins Schwarze. Er hörte nicht zu. Und dann hörte ich auf, mich zu rechtfertigen. Was hatte das für einen Sinn? Ich sah die Wahrheit selbst im Spiegel.

Als Khalifa aufwachte und zu weinen begann, nahm ich sie auf den Arm. Mein Rücken schmerzte, mein Körper schmerzte vor Müdigkeit. Aber ich wiegte sie und drückte sie an mich. Meine kleine Tochter. Und mein Aidar. Nur ihretwegen halte ich noch durch.

Aber irgendwie fühle ich mich innerlich leer.

Am Abend, als die Kinder eingeschlafen waren, legte ich mich ins Bett und sank mit dem Gesicht in das Kissen. Neben mir lag mein Handy. Ein paar Nachrichten von Freundinnen, die mich schon lange nicht mehr zu Treffen eingeladen hatten. Ein paar Fotos im gemeinsamen Chat. Eine Nachricht von meiner Schwester.

Und keine einzige von Zafar.

Ich schloss die Augen und hoffte, wenigstens für ein paar Minuten einschlafen zu können. Aber in meinem Kopf hallte immer wieder seine Stimme wider:

„Du hast dich gehen lassen.“

„Wie siehst du denn aus?“

„Mit diesem Gesicht will ich nicht nach Hause gehen.“

Ich drückte das Kissen an mein Gesicht, um meine Schluchzer zu unterdrücken.

Nicht heute.

Heute bin ich zu müde, um zu weinen. Vielleicht morgen. Vielleicht nie.

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