Kapitel 6
Instinktiv wollte Simone sich umdrehen, doch dann erinnerte sie sich an ihre „Hörbehinderung“ und zwang sich, stehen zu bleiben.
Tom eilte zu ihr, Panik in den Augen.
„Simone, verlässt du mich? Wir heiraten doch bald - wohin willst du gehen?“
Als er keine Reaktion von ihr sah, wurde Tom plötzlich klar und wiederholte sich schnell in Gebärdensprache.
Simones Ausdruck blieb ruhig.
„Es ist eine Freundin von mir, die geht“, erwiderte sie.
Tom betrachtete ihr Gesicht aufmerksam. Erst nachdem er ihre gelassene Miene bestätigt und keine Spur von Täuschung entdeckt hatte, atmete er erleichtert auf.
„Das ist gut. Simone, du weißt nicht, wie erschrocken ich gerade war. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie ich überleben würde, wenn du mich verlässt.“
Er zog sie fest in seine Arme, echte Angst stand in seinem Gesicht.
Trotz seiner herzlichen Worte fühlte Simone nichts in ihrem Inneren.
Wenn er so große Angst hatte, dass sie ihn verlässt, warum hat er sie dann betrogen?
Dachte er, sie könne nicht hören, und fühlte sich deshalb ermutigt?
Pech für ihn - er würde enttäuscht werden.
Noch immer erschüttert, legte Tom seinen Arm um ihre Taille und war bereit zu gehen.
„Simone, lass uns nach Hause gehen. Ich werde dich von jetzt an keine Sekunde mehr aus den Augen lassen.“
„Was ist mit deiner Assistentin?“, fragte sie.
„Ihr ging es nicht gut, deshalb ist sie früh gegangen“, erwiderte er geschmeidig. Die Lüge rollte mühelos über seine Zunge.
Simone fand seine Antwort mehr als ironisch.
Als sie den Parkplatz erreichten, entdeckte Simone, wie Belinda mit einem Mann kämpfte.
Der Mann hielt Belindas Handgelenk fest im Griff und zeigte keine Absicht, sie loszulassen. Seine andere Hand griff nach ihrer Taille. Als sie sich befreite, schlug sie ihm hart ins Gesicht.
Wütend griff der Mann nach einer Bierflasche vom Boden und zielte damit auf sie.
In diesem Bruchteil einer Sekunde spürte Simone, wie sich der Arm, der um ihre Taille gelegt war, plötzlich löste.
Tom stürmte nach vorne und schirmte Belinda mit seinem Körper ab.
Die Bierflasche zerschmetterte an seiner Schulter, das scharfe Glas schnitt durch das Fleisch. Blut sickerte durch sein Hemd und färbte es hellrot.
Toms Gesicht wurde dunkel und bedrohlich. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Belinda unverletzt war, packte er den Mann am Kragen und versetzte ihm einen brutalen Schlag ins Gesicht. Jeder Hieb landete mit Wucht.
„Wer hat dir erlaubt, meine Frau anzufassen?“
Der Mann, der Tom erkannte, war vor Angst wie gelähmt. Er duckte sich und bettelte wiederholt um Gnade. Er war zu verängstigt, um sich zu wehren.
In der Nähe hatte eine Glasscherbe Simones Wange gestreift und eine dünne Blutlinie hinterlassen. Doch sie stand regungslos da, als würde sie den Schmerz nicht spüren, und beobachtete schweigend den wütenden Mann vor ihr.
Die Szene vor ihr überlagerte sich mit einer Erinnerung.
Vor fünf Jahren, nicht lange nachdem Tom und sie zusammengekommen waren, hatten sie gemeinsam eine Geschäftsgala besucht.
Es war das erste Mal, dass sie in der Öffentlichkeit als Toms Freundin auftrat. Damals war Toms Image als hingebungsvoller Partner noch nicht etabliert.
Als die Leute von ihrer Hörbehinderung erfuhren, konnte sie die Verachtung und den Spott in ihren Augen deutlich erkennen.
Während Tom von einem Geschäftspartner zur Seite gezogen wurde, umringten sie Männer mit schlechten Absichten. Sie nahmen an, sie wäre nichts weiter als ein flüchtiger Zeitvertreib für Tom.
Auch wenn sie ihre Worte nicht hören konnte, konnte Simone die lüsternen Blicke und den Spott in ihren Augen lesen.
Sie wollte um Hilfe rufen, hatte aber Angst, Tom in Schwierigkeiten zu bringen. Sie versuchte immer wieder, sie zu warnen, doch ihr Widerstand vertiefte nur ihre Belustigung.
Gerade als einer der Männer die Hand ausstreckte, um ihr Gesicht zu berühren, tauchte Tom auf und trat ihn mehrere Meter weit weg. Seine Augen brannten rot vor Wut, als er den Mann zu Boden drückte und gnadenlos auf ihn einschlug.
Später befahl Tom seinem Sekretär, alle Verbindungen zu diesen Männern und ihren Firmen zu kappen, und setzte sie damit faktisch auf die schwarze Liste der Branche.
Von diesem Moment an wusste jeder, dass Simone unantastbar war. Sie war Toms verbotener Schatz, für niemanden erreichbar.
Doch jetzt, unter denselben Umständen, war die Person in seinen Armen nicht mehr sie.
