Kapitel 2
Unwillig, noch mehr dieser heuchlerischen Lügen anzuhören, legte Simone ihren Löffel beiseite und stand auf.
Als Tom sah, dass sie gehen wollte, stand auch er schnell auf und fragte sie in Gebärdensprache, was los sei.
Simone schüttelte den Kopf und flüsterte leise.
„Ich bin müde. Ich möchte nach Hause.“
Ohne auf Toms Antwort zu warten, verließ sie das Separee.
Als sie auf die Straße trat, blickte sie auf und sah sofort den riesigen Bildschirm auf der anderen Straßenseite am Bürogebäude. Darauf lief in Dauerschleife ein Video mit einem Heiratsantrag.
„Simone Watson, heirate mich!“ Die fetten Buchstaben standen prominent in der Mitte des Bildschirms.
Passanten bemerkten die Botschaft und äußerten ihre Bewunderung.
„Mein Gott, ich habe gehört, dass die Freundin von Herrn Francis taub ist. Er hat für seinen Antrag den Bildschirm des höchsten Gebäudes der Stadt gemietet, damit sie seinen Antrag klar und deutlich sehen konnte. Und nachdem sie zugestimmt hatte, ließ er das Video einen ganzen Monat lang laufen, damit jeder ihre Liebe mitfeiern konnte.“
„Herr Francis muss seine Freundin wirklich lieben. Er wird bestimmt ein wunderbarer Ehemann.“
Doch die Person, um die es ging, verzog nur spöttisch die Lippen.
Noch vor einer Woche hätte sie genauso wie die Passanten reagiert. Sie hatte an Toms Liebe geglaubt und war überzeugt gewesen, dass er ein guter Ehemann sein würde.
Simone war in einem Waisenhaus aufgewachsen und hatte im Alter von neun Jahren ihr Gehör verloren, weil ein hohes Fieber nicht behandelt worden war. Von da an wurde sie zur Zielscheibe von Mobbing und gemeinen Streichen im Waisenhaus und in der Schule.
Inmitten dieser täglichen Grausamkeiten baute sie eine undurchdringliche Mauer um ihr Herz und schloss sich von allen ab.
In diesem Zustand trat Tom in ihr Leben. Er verliebte sich auf den ersten Blick in sie und begann, sie unermüdlich zu umwerben.
Da man sich über sie lustig gemacht hatte, mied Simone ihn um jeden Preis. Auf jede seiner neunundneunzig Liebeserklärungen folgte neunundneunzigmal ihre Ablehnung.
Dann, während eines Erdbebens, schützte Tom sie ohne zu zögern. Selbst als sich eine Stahlstange durch sein Schulterblatt bohrte, hielt er seine schützende Haltung aufrecht.
Als er im Krankenhaus erwachte, war das Erste, was er tat, als er sie sah, zu gebärden: „Zum Glück geht's dir gut.“
In diesem Moment erfuhr Simone, dass er einen dreimonatigen Fingersprachkurs besucht hatte, nur um besser mit ihr kommunizieren zu können.
In diesem Augenblick begannen die Mauern, die sie errichtet hatte, Risse zu bekommen.
Die Stahlstange hinterließ eine runde, braune Narbe auf seiner Schulter. Jedes Mal, wenn sie diese sah, regte sich etwas in ihrem Herzen.
In den nächsten fünf Jahren behandelte Tom sie mit unerschütterlicher Hingabe und ließ sie seine Aufrichtigkeit spüren.
Selbst als seine Familie ihre Beziehung vehement ablehnte, blieb er standhaft und machte ihr einen Heiratsantrag.
Um ihn bei ihrer Hochzeit „Ja“ sagen zu hören und ihm den Konflikt zwischen seiner Familie und ihr zu ersparen, wagte Simone trotz Lebensgefahr eine Ohr-Operation im Ausland.
Vielleicht stand das Schicksal auf ihrer Seite, denn die Operation war ein Erfolg.
Sie plante, Tom am Tag ihrer Hochzeit zu überraschen, indem sie ihr wiederhergestelltes Gehör geheim hielt. Oft stellte sie sich vor, wie er sich freuen würde, wenn er es während der Zeremonie entdecken würde.
Doch am Tag ihrer Rückkehr aus dem Ausland hörte sie Tom am Telefon mit einer anderen Frau sprechen - seiner Assistentin. Ihr kokettes Geplänkel klang lässig und ungezwungen.
In diesem Moment erfuhr Simone die Wahrheit: Er hatte diese Frau seit einem Jahr hinter ihrem Rücken geflirtet. Sie hatte von nichts gewusst.
Der Schmerz in ihrer Brust war so überwältigend, dass sie sich in die Hocke begab und sich fest umklammerte.
Die Worte, die Tom im Separee gesprochen hatte, spielten sich immer wieder in ihrem Kopf ab. Selbst kurz vor der Hochzeit hatte er nicht vor, seine Affäre zu beenden.
Dachte er etwa, er könne sie ein Leben lang betrügen, nur weil sie nicht hören konnte?
Die schneidende Kälte der Winternacht drang ihr bis in die Knochen und klärte ihren Verstand.
Sie würde Tom zeigen, dass Lügen immer ans Licht kommen.
Und sie würde Verrat niemals dulden.
