Kapitel 5: Fluchtversuch
Triggerwarnung: Emotionales Trauma, Ablehnung durch die Eltern, Verlassenwerden)
Sie blieb dort, lange nachdem sie weg waren.
Die Tür war mit einem Klicken ins Schloss gefallen. Das Geräusch klang ihr noch immer in den Ohren.
Sie bewegte sich nicht.
Zuerst hat sie nicht geweint.
Sie saß einfach nur da.
Sie hatte die Knie an die Brust gezogen und die Arme so fest umklammert, dass sich ihre Nägel in ihre Haut gruben. Ihr Gesicht war an ihre Schenkel gepresst. Ihr Atem war flach und feucht, jeder Atemzug ein Kampf, als müsste sie ihrem Körper wieder das Überleben beibringen.
Dann brach die Stille.
Und das tat sie auch.
Sie öffnete den Mund, doch zunächst kam kein Laut heraus. Nur ein Keuchen. Ein leises, schmerzhaftes Schluckauf aus ihrem Rachen. Dann noch eines. Dann ein scharfes, plötzliches Schluchzen, als wäre in ihrer Brust eine Wunde aufgerissen worden.
Sie rollte sich enger zusammen und ließ es herausströmen.
Ihre Schreie waren nicht sanft. Sie waren nicht leise.
Sie waren hässlich. Laut. Roh.
Sie schluchzte, bis ihre Kehle brannte. Bis ihr Magen sich verkrampfte. Bis sie nicht mehr atmen konnte, ohne dass es wehtat.
Und währenddessen schüttelte sie unentwegt den Kopf und flüsterte immer wieder dasselbe wie ein gebrochenes Gebet.
„Nein. Nein. Nein. Nein.“
Ihre Stimme überschlug sich.
„Das kannst du mir nicht antun.“
Sie schlug mit der Hand gegen die Fliesen.
„Ich habe nichts falsch gemacht.“
Sie zitterte jetzt heftig. Ihre Tränen durchnässten die Vorderseite ihres Nachthemdes. Ihr stockte der Atem.
„Ich habe es versucht. Ich habe es verdammt hart versucht.“
Sie riss sich die Haare aus, wiegte sich auf der Stelle, ihr Körper pulsierte vor Schmerz, den niemand sonst sehen konnte.
Ich habe trainiert. Ich habe zugehört. Ich habe den Mund gehalten, wenn sie mir wehgetan haben. Ich habe gelächelt, wenn sie gelacht haben. Ich war brav. Ich war gehorsam. Ich habe mich nicht beschwert. Ich habe nichts verlangt. Ich habe um nichts gebeten.
Sie blickte zur Decke hinauf, ihre Stimme war scharf und zitternd.
„Warum war ich nicht genug?“
Ihr Blick fiel auf das Fenster.
Der Mond war draußen.
Ein blasser Silberstreifen am dunklen Himmel.
Ihre Atmung verlangsamte sich.
Ihre Stimme wurde wieder zu einem Flüstern.
„Mondgöttin …“
Sie blinzelte durch ihre Tränen und starrte in den Himmel.
„Hörst du zu?“
Die Stille antwortete.
„Ich habe dich nie um etwas gebeten. Nicht ein einziges Mal. Ich habe dir keine Vorwürfe gemacht, als ich mich nicht verwandelt habe. Ich habe dich nicht verflucht, als ich schwächer war. Ich dachte, vielleicht … vielleicht bin ich einfach anders. Vielleicht brauche ich mehr Zeit. Ich dachte, eines Tages würdest du es mir zeigen. Dass du mich auch wählen würdest.“
Ihre Lippen zitterten.
„Ich dachte, du wartest nur auf den richtigen Moment.“
Sie stieß einen Laut aus. Irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen.
„Ich dachte, du liebst mich.“
Ihre Stimme brach erneut.
„Ich habe jede Nacht zu dir aufgeschaut und mit dir geredet. Wenn ich nicht schlafen konnte. Wenn Sylvana mir wehgetan hat. Wenn Thorne mich ausgesperrt hat. Ich dachte, du würdest zusehen. Ich dachte, vielleicht würdest du mir eines Tages antworten.“
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Aber das hast du nicht.“
Sie wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Es half nichts. Die Tränen kamen immer wieder.
„Ich werde morgen sterben.“
Ihre Stimme war jetzt kaum noch ein Flüstern.
„Sie schicken mich zu ihm. Ich weiß nicht einmal, was ich bin. Ich habe mich nicht verwandelt. Ich habe nur angefangen zu bluten. Manchmal schlafe ich immer noch bei angeschaltetem Licht. Ich bin nur ein Mädchen. Ich bin nur …“
Sie schloss fest die Augen.
„Ich bin nur ein Mädchen.“
Und dann –
Ihre Stimme veränderte sich.
Sanfter. Zerbrechlicher. Wie ein Kind, das im Dunkeln ruft.
"Mama…"
Sie schluckte schwer.
„Mama, wenn du da bist … wenn du zuhörst … bitte. Bitte sag mir, was ich tun soll.“
Langsam und schwach kroch sie zum Fenster, ihre Hände schleiften über den Boden. Sie kniete im Mondlicht nieder und presste ihre Stirn an die Scheibe.
„Ich erinnere mich an deine Stimme. Ich erinnere mich an dein Summen, wenn du mir die Haare gebürstet hast. Ich erinnere mich, wie du gesagt hast, ich sei unter einem ruhigen Mond geboren. Dass das bedeutet, dass ich langsam wachse, aber hell strahle.“
Eine Träne rollte ihre Wange hinunter.
„Ich habe dir geglaubt.“
Sie öffnete die Augen und starrte zu den Sternen hinauf.
„Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht. Aber ich weiß, dass das nicht richtig ist. Ich weiß, dass ich nicht so sterben soll.“
Sie drückte ihre Handfläche gegen das Glas.
„Bitte sagen Sie mir, was ich tun soll. Bitte helfen Sie mir.“
Schweigen.
Sie lehnte sich zurück.
Habe tief Luft geholt.
Dann noch einer.
Und dann veränderte sich etwas in ihr.
Sie wusste nicht, was es war.
Aber es war klein.
Und wütend.
Und lebendig.
Sie stand langsam auf.
Ihre Beine zitterten, aber sie blieb aufrecht.
Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Die Bücher, die sie nie zu Ende gelesen hatte. Der zerbrochene Spiegel. Die Steppdecke, die ihre Mutter einst genäht hatte. Der einzige Ort, der ihr je gehört hatte.
Und sie hat es gesagt.
Laut.
„Das darf ich nicht zulassen.“
Diesmal zitterte ihre Stimme nicht.
„Ich muss hier raus.“
Sie drehte sich zu ihrem Bett um und öffnete die Schublade. Sie holte ihre Tasche heraus und stopfte ihre letzten Klamotten hinein. Eine Flasche. Zwei Äpfel. Das abgenutzte Taschentuch, das nach altem Lavendel und etwas Warmem roch, das sie nicht benennen konnte.
Sie band es fest.
Sie ging zum Kleiderschrank und nahm ihre Stiefel.
Dann stand ich noch einmal vor dem Fenster.
Sie blickte zum Mond hinauf.
Ihr Herz war immer noch gebrochen. Ihre Augen waren immer noch rot. Ihre Brust war immer noch eng vor Kummer.
Doch ihre Stimme klang jetzt fest.
„Ich habe Angst.“
Ein Atemzug.
„Aber ich will leben.“
Noch ein Atemzug.
„Ich muss fliehen.“
Sie nickte einmal.
„Es ist zu meinem Besten.“
Ihre Hand umklammerte den Riemen ihrer Tasche. Sie biss die Zähne zusammen.
„Ich kann das.“
***
Sera stand in ihrem Zimmer und starrte zur Tür. Ihre Tasche war gepackt. Ihre Stiefel waren noch nicht geschnürt. Ihre Hände zitterten. Ihr Herz schlug wie eine Kriegstrommel in ihrer Brust. Sie konnte kaum atmen, da sie den Herzschlag in ihrem Mund spürte.
„Du musst los“, flüsterte sie vor sich hin. „Jetzt. Bevor sie aufwachen.“
Sie ging auf die Tür zu, ihr ganzer Körper war angespannt, als würde sie auf jemanden zuschlagen. Ihre Finger schwebten über der Türklinke.
„Geh einfach in den Wald.“
Ihre Stimme war heiser.
„Von dort aus können Sie es herausfinden.“
Ihre Finger griffen nach der Tasche, die sie bereits gepackt hatte. Sie stand neben dem Bett, klein und abgenutzt, vollgestopft mit den einzigen Kleidungsstücken, die sie besaß und die nicht zerrissen waren.
Ihre Stiefel standen daneben. Sie schlüpfte hinein, ohne sie zu binden, noch nicht. Erst als sie den Steinweg passiert hatte. Sie konnte das Geräusch nicht riskieren.
Ihr Herz hämmerte lauter als ihre Schritte.
Sie öffnete ihre Schlafzimmertür. Nur einen Spaltbreit. Gerade weit genug, um den Flur zu sehen.
Dunkel.
Trotzdem.
Das ganze Haus schlief.
Sie atmete leise und langsam aus. Dann bewegte sie sich.
Sie schlich an Sylvanas Tür vorbei. Dann an Thornes. An der ihres Vaters. Der Duft seines Kölnisch Wassers stieg ihr in die Nase, und ihr drehte sich der Magen um.
Ihre Füße waren lautlos auf dem Holz
Dann knarrte die Treppe einmal.
Sie erstarrte.
Gewartet.
Keine Schritte oben.
Niemand rührte sich.
Sie bewegte sich weiter.
Die Küche war leer. Der Raum, in dem sie einst heimlich mit ihrer Mutter gegessen hatte. Verborgenes Lachen. Geflüsterte Geschichten bei verbranntem Toast. Sie blickte auf den Tisch und spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog.
Nicht jetzt. Sie durfte sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen.
Sie ging zur Speisekammer. Ihre Finger fanden den Riegel der Dienstbotentür. Der Knauf drehte sich mit einem leisen Klicken. Und dann – bumm – war sie draußen.
Die Luft, die ihr ins Gesicht schlug, war kalt, als der Wind ihre Wangen küsste und ihre Locken umspielte. Der Mond hing wie ein wachsames Auge da. Blass. Voll. Still.
Sie trat hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Dann rannte ich.
Sie wusste nicht, wohin sie ging. Sie wusste nur, dass es weit sein musste.
Ihre Stiefel schlugen auf den Boden. Sie blieb nicht stehen. Äste kratzten an ihren Armen. Dornen zerrissen ihren Rock. Die Tasche prallte gegen ihren Rücken.
Jeder Atemzug fiel ihr schwer. Ihre Lunge schmerzte. Ihre Beine brannten.
Aber sie rannte weiter.
„Ich kann das“, flüsterte sie mit rauer Stimme und schwer atmender Brust vor sich hin. „Ich kann das. Ich muss es.“
Die Bäume um sie herum flüsterten. Der Wind strich durch die Zweige, als kenne er ihren Namen. Ihre Füße fanden einen vertrauten Weg zum östlichen Grat. Dahinter die Freiheit. Oder zumindest etwas, das nicht er war.
„Geh einfach über den Grat“, hauchte sie. „Geh einfach darüber hinweg und schau nicht zurück.“
Die Stimme ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf wider. Dieses leise Summen. Die Art, wie sie ihr immer durchs Haar strich und ihr Geschichten von Wölfen aus Sternenlicht und Mädchen erzählte, die heller strahlten als der Mond.
Sie hatte es geglaubt.
„Ich bin nicht bereit zu sterben“, flüsterte sie. „Ich bin nicht bereit, irgendjemandem irgendetwas zu bedeuten.“
Ihr Stiefel blieb an einem Stein hängen. Sie stolperte, fing sich und lief weiter. Ihre Hände umklammerten die Riemen ihrer Tasche fester.
„Ich gehöre nicht ihnen“, flüsterte sie. „Ich gehöre nicht ihm.“
Sie drückte stärker. Schneller.
„Mondgöttin, bitte“, flüsterte sie. „Bitte lass mich gehen. Bitte lass mich raus.“
Der Wald wurde dichter. Dunkler.
Der Wind hat gedreht.
Ein Geräusch. Zu nah.
Sie blieb stehen.
Ihr stockte der Atem. Ihr Körper erstarrte.
Sie drehte sich mit weit aufgerissenen Augen um, ihre Brust hob und senkte sich zu schnell.
Nichts.
Nur Bäume. Nur Dunkelheit.
Sie schluckte und drehte sich wieder nach vorne.
Noch ein Geräusch. Diesmal näher.
Sie geriet in Panik und schluckte, aber sie konnte keine Zeit mehr verlieren und rannte schneller! Oh, warte, streich das.
Sie ist abgehauen.
Äste peitschten ihr ins Gesicht. Ihre Beine pumpten. Ihre Lunge brannte. Doch sie hörte nicht auf.
Schau nicht zurück. Lauf einfach.
„Ich bin fast da“, keuchte sie. „Bitte, bitte lass mich einfach los. Nur noch ein bisschen.“
Jetzt konnte sie den Grat sehen. Sie konnte die Lücke zwischen den Bäumen sehen, wo der Hügel abfiel. Sie spürte, wie die Hoffnung ihre Panik durchbrach. Endlich war sie entkommen. Endlich!!! Niemand würde sie kriegen!
Dann.
Ein Kinderspiel.
Ein Atemzug.
Ein Schatten hinter ihr.
Dann eine Hand.
Es schoss aus der Dunkelheit hervor und verfing sich in ihrem Haar. Finger gruben sich fest in die Haarwurzeln. Sie schrie laut und rau, als ihr Körper mit Gewalt nach hinten gerissen wurde.
Sie schlug hart auf dem Boden auf. Ihr Rücken schlug auf den Boden. Ihre Stiefel traten wild. Ihre Kopfhaut brannte. Ihre Hände griffen nach oben und krallten sich in die Haare.
„Lass mich los!!!“
Sie hatte kaum Zeit zum Atmen, bevor eine Stimme hinter ihr flüsterte.
Direkt hinter ihrem Ohr.
„Wo zum Teufel denkst du, dass du hingehst?“
