Kapitel 1— ein neuanfang
Der Zug brauste vorbei, durchquerte ausgedehnte Grünflächen und gelangte dann allmählich in eine stärker urbanisierte Landschaft. Rosette Blooms starrte aus dem Fenster, ihre Hände umklammerten die Griffe ihrer Tasche. Ihr Spiegelbild, das durch die Erschütterungen der Kutsche leicht verschwommen war, zeigte ihr das Bild eines Mädchens mit einem süßen, von braunen Locken umrahmten Gesicht und einer Brille, die leicht von ihrer Nase rutschte.
Sie war in einem kleinen, friedlichen Dorf aufgewachsen, wo jeder jeden kannte und die Tage langsam vergingen, unterbrochen vom Gesang der Vögel und dem Rascheln des Windes in den Bäumen. Aber sie hatte diese Welt hinter sich gelassen. Nun war sie auf dem Weg nach Grandisbourg, einer riesigen Stadt, von der sie bisher nur Fotos im Internet und Postkarten von Bekannten gesehen hatte.
Sein Herz schlug ein wenig zu schnell.
Saint-Célestin-Gymnasium. Eine renommierte Einrichtung, die für ihre akademischen Leistungen bekannt ist und von der Elite der Gesellschaft besucht wird. Hier verbrachte sie die nächsten zwei Jahre. Sie war froh, angenommen worden zu sein, doch ihre Freude wurde durch eine dumpfe Angst getrübt: Würde sie der Aufgabe gewachsen sein?
Der Zug wurde langsamer und hielt dann mit einem metallischen Seufzen an. „Endstation: Grandisbourg“, verkündete eine weibliche Stimme aus den Lautsprechern. Rosette holte tief Luft, rückte ihre Brille zurecht und schnappte sich ihren Koffer, bevor sie zum Bahnsteig hinunterging.
Ein Strom von Passagieren drängte sich um sie, jeder ging in eine andere Richtung. Familien versammelten sich, Geschäftsleute gingen zügig spazieren und checkten dabei ihre Telefone, und Teenager unterhielten sich und lachten, offensichtlich an das geschäftige Treiben der Stadt gewöhnt. Rosette ihrerseits fühlte sich inmitten dieser Aufregung winzig.
Als sie den Bahnhof verließ, blickte sie auf. Grandisbourg war noch beeindruckender, als er es sich vorgestellt hatte. In den Glasfassaden der Gebäude spiegelte sich der Himmel, in den überfüllten Straßen hupten Taxis und Werbebildschirme tauchten die Bürgersteige in ein buntes Licht. Einen Moment lang war ihr schwindelig.
Ein Anruf holte sie in die Realität zurück. Sie holte ihr Telefon heraus und ging ran.
-Rosette? Bist du gut angekommen?
Die beruhigende Stimme seiner Mutter tat ihm gut.
– Ja, Mama. Ich bin gerade aus dem Zug gestiegen.
- Alles ist in Ordnung? Nicht zu verloren?
Sie zögerte. Sie war zwar ein wenig verloren, aber sie wollte ihre Mutter nicht beunruhigen.
- Wie geht es dir. Ich nehme ein Taxi und fahre zur Wohnung.
- Einverstanden, Schatz. Ruf mich heute Abend an.
Sie legte auf und holte tief Luft, bevor sie auf den Bürgersteig trat. Sein Abenteuer in Grandisbourg hatte gerade erst begonnen.
Das Taxi brauste durch die Straßen von Grandisbourg, und Rosette blieb still, ihre Augen auf die vorbeiziehende Stadtlandschaft gerichtet. Alles war riesig. Neonreklamen blinkten an den Fassaden der Häuser, die Caféterrassen waren voller Menschen und Straßenbahnen glitten mit hypnotischer Geschmeidigkeit über ihre Schienen. Die Luft war erfüllt von Geräuschen: lebhafte Gespräche, ungeduldiges Hupen, Musik aus den Geschäften. Nichts mit der Ruhe seines Heimatdorfes zu tun.
Nach etwa zwanzig Minuten hielt das Fahrzeug vor einem modernen Gebäude mit großen Erkerfenstern. Rosette eilte hinaus, bezahlte den Fahrer mit einem leicht zerknitterten Schein und fand sich allein vor dem Eingang wieder. Sie durchwühlte ihre Tasche, um den Schlüssel zu finden, den ihre Eltern ihr ein paar Tage zuvor geschickt hatten.
Die Wohnung war klein, aber komfortabel. Ein großes Fenster ließ Tageslicht herein und der helle Holzboden sorgte für eine warme Note. Es gab eine funktionale Küchenzeile, ein winziges Badezimmer und ein Schlafzimmer, in dem bereits ein frisch gemachtes Bett auf ihn wartete. Ihre Eltern hatten alles vorbereitet, damit sie sich problemlos einleben konnte.
Sie stellte ihren Koffer in eine Ecke, ließ sich aufs Bett fallen und seufzte.
Morgen war der große Tag.
Saint-Célestin-Gymnasium.
Aufregung und Besorgnis vermischten sich in ihr. Sie war eine fleißige Schülerin, aber die Tatsache, von Teenagern aus den einflussreichsten Familien der Stadt umgeben zu sein, machte ihr Angst. Würde es ihr gelingen, sich in diesem Umfeld einen Platz zu erobern? Oder ist sie nur ein diskreter Schatten in den goldenen Korridoren dieses Etablissements?
Sie drehte ihren Kopf zu ihrem Koffer und richtete sich auf. Sie durfte sich von ihren Zweifeln nicht lähmen lassen. Sie war dort, um zu studieren und sich eine Zukunft aufzubauen.
Rosette kniete vor ihrem offenen Koffer und betrachtete das Durcheinander der von ihrer Mutter ordentlich zusammengelegten Kleidung und die wenigen vertrauten Gegenstände, die sie mitgebracht hatte. Jedes Stück Stoff, jedes Accessoire hatte eine Geschichte, eine Erinnerung an sein früheres Leben.
Sie begann damit, ihre Uniformen in den kleinen Schiebetürenschrank zu hängen und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie sie ab morgen an einer der renommiertesten Highschools des Landes tragen würde. Als nächstes ordnete sie ihre Alltagskleidung in den Schubladen und achtete darauf, jedes Kleidungsstück sorgfältig zu falten, als ob ihr dies ein gewisses Maß an Kontrolle über diesen Neuanfang geben könnte.
Als sie einen Kulturbeutel aus geblümtem Stoff öffnete, strömte ihr ein vertrauter Lavendelduft entgegen. Seine Mutter hatte ihm ein kleines Duftsäckchen zugesteckt, ein unbedeutendes Detail, das ihm jedoch das Herz erwärmte. Sie stellte es in eine Ecke ihres Nachttischs, neben das Notizbuch, in dem sie ihre Gedanken niederschrieb.
Nach einer Stunde sorgfältigen Aufräumens sah ihr Raum einladender aus. Ihr Schreibtisch, auf dem sie bald ihre Lehrbücher ablegen würde, war nun leer. Auf der Kommode hatte sie ein paar Fotos aufgereiht: eines von ihr und ihren Eltern vor ihrem Landhaus, ein anderes von ihrer Katze, die unter einem Apfelbaum schlief.
Schließlich nahm sie sich die letzte Kiste vor, die ihre Lieblingsbücher enthielt. Sie stellte sie sorgfältig auf dem Regal über ihrem Bett auf und strich bei einigen über die Decke, als wolle sie sich beruhigen. Lesen würde ihr wahrscheinlich helfen, sich weniger allein zu fühlen, zumindest in den ersten Tagen.
Als sie fertig war, trat sie zurück, um ihre Arbeit zu betrachten. Die Wohnung war nicht länger nur ein fremder Ort, sie begann sich wie ein richtiges Zuhause anzufühlen.
Ein gurgelndes Geräusch durchbrach die Stille. Ihr wurde klar, dass sie seit ihrer Ankunft nichts gegessen hatte. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr und seufzte: Es war schon spät und sie hatte heute Abend nicht die Energie, auszugehen und die Stadt zu erkunden. Sie öffnete ihre Tasche und holte eine kleine Tüte Kekse heraus, die ihre Mutter ihr in letzter Minute zugesteckt hatte.
