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Verschwunden

Immer wieder sah sie auf ihre Uhr. Der Zeiger Stand mittlerweile auf vierzehn Uhr vierunddreißig. Keira biss sich auf die Unterlippe. Diese hatte schon einige rote Stellen, welche von ihren weißen Zähnen stammten. Zahnpflege war ihr zwar immer sehr wichtig gewesen, jedoch waren ihre Zähne trotzdem nicht mehr so strahlend weiß wie früher. Auch ihre Hände zeigten ihre Nervosität und innere Unruhe. Mit ihren Finger trommelte sie immer wieder auf ihrem Oberschenkel herum. Ihre Fingerspitzen und die Haut ihres Oberschenkels trennte nur, der schwarze Stoff ihrer Skinny Jeans. Wo blieb er nur? Sie hatte vorgehabt, sich hier mit ihrem Bruder Sebastian, um viertel nach zwei zu treffen, doch nun stand Keira hier, vor ihrem Stammlokal und wartete. Es war eine altenglische Bar mit viel Charme. Nur wenige kannten diesen geheimen Platz und daher musste man keine Angst vor finstersten Gestalten haben.

Die Holztür des Lokals war wie meistens weit geöffnet und erlaubte der frischen Luft von draußen , in den eher gemütlichen Raum zu gleiten. Die Fassade war in einem dunklen Grünton gestrichen, der an einen moosigen Waldboden erinnerte. Diese Fassade wurde von zwei dunkelbraunen Holzbalken umrandet und stellte die Baumstämme im Wald dar. Circa zweieinhalb Meter über dem Boden war ein senkrechter Holzbalken angebracht, der das Dach von der Fassade trennte. Darauf war in schwarzer Schreibschrift die Inschrift "Old McHaunt" geschrieben. Normalerweise brauchte sie immer einige Minuten um sich von den vielen Kunstvollen Gemälden loszureißen, die sie dort ausstellten. Eigentlich war sie ja kein großer Kunstfan aber diese hier zogen immer ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Besitzer des Old McHaunt, Mister Haunt, erlaubte jungen Künstlern, egal, wie unbekannt sie waren, ihre Kunstwerke in den Fenstern der Bar auszustellen. Jede Woche gab es einige neue Bilder zu bewundern.

Doch heute hatte Keira keine Zeit das alles zu bewundern. Gerade war ihr nur eine Sache wichtig: ihr Bruder. Schon dreimal hatte sie versucht ihn anzurufen, jedoch war das erfolglos geblieben. Immer nur ging die Mailbox ran und sie hörte die weiche aber tiefe Stimme ihres älteren Bruders. Eigentlich war es gar nicht so untypisch, dass er zu spät war aber, dass er auf ihre Anrufe nicht reagierte machte ihr sorgen. Doch was sollte sie tun? Sie hatte keine Ahnung von wo er losfahren wollte und erreichen konnte sie ihn auch nicht. Mr. Haunt sah sie an. Er stand hinter der Bar, seiner Kneipe und konnte sie so direkt sehen. Er hatte ihr mal erklärt, dass er wollte, dass er immer auf die Straße sehen konnte. Einerseits um neue Kunden freundlich zu begrüßen aber auch um abends sicher zu gehen, dass jeder wusste, hier war ein Zufluchtsort. Einmal hatte er mit einem Jagdgewehr ein paar Schläger einer Straßengang vertreiben nachdem sie einen Kunden verprügeln wollten. Seit diesem Tag hatte jeder Respekt vor dem Mann und allen war klar, dass das Old McHaunt sicher war. Einer der vielen Gründe, warum sich die beiden hier oft trafen.

Freundlich winkte Keira ihm zu. Er musste ja nicht gleich wissen, dass sie ihren Bruder nicht erreichen konnte. Nach weiteren 10 Minuten des Wartens entschloss sie sich nach Hause zu gehen. Es hatte ja doch keinen Sinn. Sie würde einfach warten. Vielleicht hatte er auch einfach kein Netz. Bestimmt würde er sich bald melden. Die junge Frau machte sich also auf den Weg zu ihrer Wohnung. Sie lief durch die dicht befahrenen Straßen New Yorks. Die Autos hupten, Passanten lachten und irgendein Verkäufer machte Werbung für seine Blumen. Ein ganz normaler Tag in der Großstadt eben. Doch all das, bemerkte Keira gar nicht. Ihre Gedanken kreisten um die Frage, wo ihr Bruder steckte. Sicher, vielleicht war alles gut aber vielleicht auch nicht und das machte ihr Angst. Er könnte in Gefahr sein und sie lief hier nutzlos durch die Gegend. Schon immer neigte Sebastian dazu in Gefahr zu geraten und Keira musste ihn am Ende wieder rausboxen. Dabei war er doch der große Bruder...

Sie war so beschäftigt mit diesen ganzen Gedanken, dass sie gar nicht bemerkte, dass sie bereits an ihrer Wohnung angekommen war. Erst als die nette Frau von nebenan, Miss Goldmann, sie begrüßte. "Hey Keira, schon so früh zurück?" rief diese. Sie wohnte in einem süßen kleinen Häuschen. Es war gerade groß genug für zwei Personen und soweit Keira wusste, lebte sie da schon eine ganze Weile mit ihrem Mann. Diesen hatte sie allerdings erst einige Male gesehen. Mira Goldmann war wirklich freundlich und bereits 2 Wochen nachdem Keira eingezogen war, hatten sich die beiden angefreundet. Wie alt genau die Frau war, verriet sie jedoch nie. Keira schätze irgendwas zwischen 30 und 40.

"Ja, Sebastian hat abgesagt" log sie. Innerlich betete sie, dass ihre Stimme nicht zitterte oder unsicher klang. Aber tatsächlich war sie fest und selbstbewusst wie meistens. Etwas nervös fuhr sie sich durch die langen, braunen Haare und lächelte nochmal kurz Miss Goldmann an. Dabei war ihr Lächeln nur flüchtig. Ein paar Sekunden länger und die Lady hätte ihr vielleicht die Unruhe angesehen, denn Mira hatte ein gutes Gespür dafür. Doch bevor das passieren konnte, holte sie den silbernen Schlüssel aus ihrer Hose. Diesen steckte sie in das Türschloss und drehte ihn herum. Die weiße Holztür öffnete sich mit einem leisen Knatschen und Keira trat schnell ein. Nun stand sie in ihrem kleinen Flur. Dieser war nur spärlich beleuchtet, da es nur ein Fenster am ende des Ganges gab. Die 19 jährige liebte diese Wohnung. Sie war zwar klein aber sehr gemütlich und voller Erinnerungen. Gerade hatte sie jedoch keine nerven dazu, in Erinnerungen zu schwelgen. Hektisch zog sie ihre schwarze Lederjacke aus und hing sie an den Jackenständer, an dem bereits drei andere hingen. Wo war Sebastian? Hatte er vielleicht einen Unfall gehabt? Oder noch etwas schlimmeres? Schnell checkte sie ihr Handy. Noch immer keine Antwort von ihrem Bruder. Wo steckte dieser Idiot bloß?

Diese negativen Gedanken wurden plötzlich von einem Klingeln unterbrochen. Es war das Festnetztelefon, welches in der Küche stand. Wer war das wohl? "Vermutlich nur irgendein Versicherungsvertreter" murmelte sie aber lief dennoch in Richtung der Küche. Dafür musste sie die erste Tür links aufmachen. Diese war, genau wie die anderen Türen auch, in einem schlichten Weiß gestrichen und aus Holz. Das stand in einem guten Kontrast zu den hellblauen Wänden und dem dunkelbraunen Boden. Die Wände waren mit vielen Bildern und Gemälden geschmückt und der Boden war mit einem Teppich ausgelegt, was dem ganzen eine persönliche Note verlieh.

Sie öffnete also die Tür und trat in die Küche. Diese war ebenso gemütlich eingerichtet wie der Rest der Wohnung. Hier waren die Wände jedoch Vanillefarben. Das sanfte Gelb gab dem Raum eine freundliche Atmosphäre. Als sie vor einem Jahr eingezogen war, hatte ihr Sebastian dabei geholfen alles zu renovieren und er war es, der die Farbe ausgesucht hatte. Anfangs war sie nicht sonderlich davon überzeugt aber inzwischen liebte sie die Farbe. Sie gab ihr eine gewisse Geborgenheit.

Mittlerweile war Keira von der Tür zu dem Küchentresen gelaufen und stand vor dem Telefon. Sie griff nach dem weißen Hörer und hob diesen zu ihrem Ohr. Für wenige Sekunden war gar nichts zu hören. Nur Stille. "Hallo? Hier ist Keira Harper, was kann ich für sie tun?" fragte sie höflich. Dabei rollte sie die Augen und begann ihre weiße Bluse aufzuknöpfen. Sie wollte sich gleich erstmal umziehen. Vielleicht half ihr das ja, sich zu beruhigen. //Wahrscheinlich nur ein Telefonstreich// dachte sie genervt.

Doch der erste Satz, den der Mann am Telefon sagte, ließ ihr Blut gefrieren. Ihr Herz begann innerhalb von Sekunden zu rasen und sie begann zu schwitzen. Ihre Gefühle überschlugen sich und sie konnte bei den tausenden Gedanken, die in ihrem Kopfrumschwirrten, nicht einen einzigen Satz rausbringen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und es fühlte sich an als würde die Panik mit jedem Atemzug grösser werden.

"Roll nicht mit den Augen, wenn ich mit dir Rede".

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