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Auf den Dächern

Erst jetzt merkte Katalia wie sehr ihr die Füße vom vielen Rennen wehtaten.

Deswegen kletterte sie kurzerhand auf den hinteren Teil einer Kutsche, die in die ungefähre Richtung ihres Hauses fuhr. Als sie an eine belebte Straße kamen, wurde die Kutsche langsamer und Katalia erkannte ihre Chance und sprang ab. Von hier aus kannte sie eine Abkürzung.

Sich einen Weg durch das Gedränge bahnend steuerte sie ein Haus mit einem winzigen, umzäunten Garten an und kroch unbemerkt durch einen Spalt zwischen zwei der Bretter.

Vorsichtig umrundete sie das Haus und erklamm die Sprossen der Leiter die zum Dach führten. Eine Wäscheleine war zwischen der Leiter und dem kleinen Orangenbaum aufgespannt worden, aber Katalia wusste, dass niemand Zuhause war.

Der Mann und die Frau, die hier wohnten, besaßen ein Gasthaus in der sie von früh bis spät arbeiteten. Sie hatten auch Kinder, drei Jungen und zwei Mädchen, aber die Kinder arbeiteten entweder mit oder besuchten eine Schule.

Die Menschen unter ihr wurden zu Ameisen, als Katalia sich auf dem Dach aufrichtete. Hier oben war es kühler und eine leichte Brise wehte ihr die losen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Das nächste Hausdach war einfach zu erreichen, sie musste nur einen Schritt nach unten treten. Bei dem danach musste sie schon springen. Und genau vier Dächer weiter war das Haus was ihr am meisten Angst bereitete.

Anders als die anderen Dächer der Stadt war dieses nicht flach, sondern mit schräg abfallenden Seiten. Das hieß Katalia musste zielsicher auf der Kante zwischen den beiden Schrägen landen, die gesamte Länge des Hauses entlang balancieren und dann mit Anlauf auf das nächste Dach springen ohne seitlich abzurutschen.

Sie atmete tief aus und fixierte den Dachgiebel. Dann nahm sie zwei, drei federnde Schritte Anlauf und sprang.

Ihre Füße erreichten kurz nacheinander das Dach. Sie musste wild mit den Armen rudern um das Gleichgewicht zu halten. Einen Moment blieb sie still stehen und bereitete sich gedanklich auf den Balanceakt vor. Wenn sie hier abrutschte würde sie sich den Hals brechen.

Vorsichtig stellte sie einen Fuß vor den anderen. Die Arme hielt sie ausgestreckt, wie Flügel. Sie erreichte die Mitte des Daches ohne Probleme und erlaubte es sich schon aufzuatmen. Gleich war es geschafft. Noch ein paar Schritte mehr...

Doch plötzlich trat sie mit ihren bloßen Füßen auf einen Käfer. Erschrocken hob sie ihr Bein und versuchte reflexartig den zertreten Käfer von ihrer Fußsohle zu schütteln. Dabei verlor sie ihr Gleichgewicht und fiel hinten über.

Sie schaffte es grade so sich mit Händen und Beinen an der Dachkante festzuklammern und alle Muskeln anzuspannen.

Angstvoll wimmernd wollte sie sich wieder aufrichten, aber sie traute sich nicht ihre Position zu ändern.

Über sich selbst verärgert schloss sie die Augen.

Soll ich hier für immer liegen bleiben? Ich werde nicht eines Käfers wegen sterben! Sagte sie sich.

Das wäre eine Schande. Ich muss nach Hause und mich um Mutter kümmern. Also, los jetzt, Katalia. Steh auf.

Die Augen nur einen Spalt öffnend raffte sie sich auf. Zwei Schritte mehr und sie war nah genug am Nachbarhaus dran, um auf das Dach zu springen. Es war wieder ein flaches, dem Himmel sei Dank.

Mit zitternden Beinen kletterte Katalia vom nächsten Haus das eine Leiter hatte, wieder auf festen Boden. Von hier aus konnte sie genauso gut durch die Gassen laufen.

Kurze Zeit später stand sie vor der Haustür des uralten Gebäudes in dem sie und ihre Mutter hausten. Die Tür, sowie die Hauswand waren arg in Mitleidenschaft genommen. Die wenige Farbe die noch dran war, blätterte ab. An vielen Stellen fehlten Steine. Katalia hatte es nie anders gekannt, aber manchmal fragte sie sich wie es wohl einst ausgesehen hatte.

Sie kletterte vorsichtig, sie hatte sich an dieser Stelle schon allzu oft Splitter eingetreten, zur Tür und öffnete diese mit einem gezielten Tritt und einem harten Stoß mit der Schulter.

Innen war es dunkel, da sie die Fenster mit Brettern vernagelt hatte. Hier gab es zwar nichts zu stehlen, aber man konnte nie vorsichtig genug sein.

,,Mutter?"

Das Haus hatte zwei Stockwerke, viele der Räume waren voller Schutt und unbenutzbar, was Katalia nicht weiter kümmerte. Sie und ihre Mutter brauchten nicht viel Platz.

Eine heisere Stimme antwortete: ,,Katalia. Du bist zurück."

Ihre Mutter lag auf ihrer Schlafmatte auf dem Boden. Ihr Gesicht war vor Schmerzen verzogen. Sie war eine schöne Frau, mit gewellten schwarzen Haaren und den gleichen braun - grünlichen Augen wie Katalia. Jung noch, noch keine vierzig, doch die Krankheit raubte ihr jegliche Kraft.

Ihre ungesund bleiche Haut war verschwitzt und ihre Haare zerzaust.

Sie trug die grünen Ohrringe, die Katalia gestern zusammen mit einer Kette gestohlen hatte. Eigentlich hatte sie sie nur kurz ihrer Mutter angesteckt um ihr eine Freude zu machen, doch sie standen ihr so gut und ließen sie so viel lächeln, dass Katalia sich vor dem Moment fürchtete wo sie ihr die Ohrringe wieder abnehmen musste, um sie zu verkaufen.

,,Ja, Mutter, ich bin zurück. Wie geht es dir? Hast du geschlafen?"

Katalia durchquerte den Raum und holte den kleinen Topf mit der Brühe, die sie heute morgen für ihre Mutter gekocht hatte.

,,Mmh. Du weißt ja ich schlafe viel."

Katalia nickte und half ihrer Mutter sich aufzusetzen.

Sie stütze sie, während sie hungrig die Brühe trank.

,,Hast du gegessen, Katalia?"

Mutters leere, vom Fieber gerötete Augen begegneten ihren Blick.

,,Ja, hab ich."

Sie hoffte, dass ihr Magen nicht knurren würde.

Es war vor weniger als einem Jahr gewesen, kurz nach dem Tod von Katalias Vater. Villeicht war der Tod ihres Vaters sogar dafür verantwortlich gewesen, villeicht aber auch nicht. Jedenfalls erlitt ihre Mutter eine Fehlgeburt, als sie schon im fünften Monat schwanger war.

An das Ereignis selber erinnerte Katalia sich nicht gerne. Martinus und seine Mutter waren dagewesen, sowie eine alte Frau aus der Nachbarschaft, die angeblich Erfahrung darin hatte Kindern auf die Welt zu helfen.

Es hatte lange gedauert. Unendlich lange Stunden in denen Martinus mit erhobener Stimme zu ihr gesprochen hatte, um die furchtbaren Schreie ihrer Mutter zu übertönen.

Dann war die alte Frau aus der Tür getreten, im Arm den blutigen Leichnam von etwas das nur flüchtig an ein Baby erinnerte.

Katalia war an ihr vorbei ins Haus gerannt, zu ihrer Mutter, die mit geschlossenen Augen da lag und flach atmete.

Seit jenem Tag war sie krank gewesen.

Katalia hatte alle Sachen von ihrem Vater verkauft, um einen Doktor kommen lassen zu können. Dieser hatte Katalias Mutter schweigend und gründlich untersucht.

,,Sie hat eine Infektion." Hatte er gesagt. ,,Bei der Geburt muss etwas in ihren Körper gekommen sein, mit dem sie sich infiziert hat. Ich kann versuchen sie mit Medizin zu behandeln, doch ich kann nichts versprechen."

Des weiteren hatte er Katalia nur geraten ihre Mutter bei Kräften zu halten.

,,Siehst du wie sie fiebert, Kind? Das ist ihr Körper der gegen die Infektion kämpft. Villeicht schafft er es, villeicht nicht."

Katalias älterer Bruder war schon mit fünfzehn zur Armee gegangen, ihr Vater war von seiner Arbeit in den Mienen nie zurückgekehrt. Es lag also an ihr, ihre Arbeit in einer Näherei aufzugeben und sich um ihre Mutter zu kümmern.

Geld musste trotzdem noch her. Und eine Arbeit die Katalia erlaubte mehrmals am Tag nach Hause zu laufen und ihre Mutter zu versorgen, fand sich schlecht. Und so hatte sie eben angefangen zu stehlen.

,,Mutter, möchtest du Wasser?"

Ein schwaches Nicken.

Katalia stand auf und goß etwas von dem Wasser, was sie heute Morgen am Brunnen geschöpft hatte, in einen Becher. Ihre Mutter war zu schwach ihn zu halten, deshalb hielt Katalia ihr den Becher an die Lippen und ließ sie trinken.

Dann machte sie sich auf, um Martinus zu treffen. Sie wollte diesmal den längeren Weg durch die Gassen nehmen. Von Dächern hatte das Mädchen für heute genug.

Ihr bester Freund wartete schon auf sie.

,,Was? Das ist alles?" Ungläubig starrte Katalia auf die Münzen in ihrer Hand.

Martinus seufzte. ,,Es waren nur Glasperlen, was hast du erwartet? Es war schon schwer genug den alten Knauser überhaupt zu vier Münzen zu überreden."

,,Trotzdem..." murmelte Katalia. ,,Es waren zwar nur Glasperlen, doch die Kette war trotzdem hübsch. Ich dachte sechs oder sieben Münzen kriegen wir dafür mindestens."

Martinus nahm ihr zwei der Münzen aus der Hand, sie teilten immer halbe - halbe.

,,Sei nicht enttäuscht, Katze. Ich bin sicher für den Numbii morgen kriegen wir mindestens acht. Wie geht es deiner Mutter?"

Katalia zuckte mit den Schultern. ,,Das übliche. Manchmal steigt das Fieber, manchmal geht es runter, nur um dann wieder zu steigen. Jetzt grade steigt es wieder. Und schwach ist sie immer. Wie geht es deiner?"

Sein Blick verdüsterte sich. ,,Gut, denke ich. Nur völlig verrückt ist sie geworden. Sie hat meinen Stiefvater doch tatsächlich wieder ins Haus gelassen."

,,Nach Allem, was er getan hat?"

,,Nach allem was er getan hat."

Katalia seufzte und wandte sich zum gehen.

,,Nun, wir sehen uns Morgen zur Mittagsstunde beim Brunnen, hoffentlich bist du bis dahin den Numbii los geworden."

Er nickte nur. ,,Beeil dich mit dem Nachhauseweg. Die Straßen sind im Dunkeln nicht sicher."

,,Im Hellen auch nicht." Gab sie zurück ohne sich umzudrehen. ,,Und ich kann auf mich aufpassen."

Zwei Münzen waren immerhin genug für jeweils ein Fladenbrot für sich und Mutter. Und sie hatte seit Tagen kaum etwas gegessen. Kein Wunder, dass sie den Weg zum Bäcker fast rannte.

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