Kapitel 1
„Adrian, dieses Foto ist wirklich der Hammer.“
Der Mann im Anzug reichte ihm sein Handy und senkte die Stimme. „Der Winkel ist perfekt.“
„Hör auf. Elena, die Braut, ist doch hier.“
„Was soll's? Sie kann es eh nicht sehen. Außerdem ist sie nur eine Waise - was kann sie schon ausrichten, wenn sie es erfährt?“
Ihr gedämpftes Gelächter drang wie ein Messer in meine Ohren.
Ich hob mein Glas, beugte mich vor, kniff die Augen zusammen und tat so, als könnte ich den Bildschirm nicht erkennen.
Dabei sah ich alles glasklar: Cassandra Blackwood, nackt, an Adrian geschmiegt. Seine entblößte Brust, die Hitze seiner Kehle und seines Schlüsselbeins, eingefangen von der Kamera, und seine ruhelose Hand, fest auf ihrer Brust.
Mir schien, als fiele mir ein Stein auf die Brust. Meine Fingernägel gruben sich so tief in meine Handfläche, dass ich beinahe blutete.
„Was für ein Bild schaut ihr euch da an?“
Ich holte tief Luft, stellte mein Glas ab und hielt meine Stimme ruhig.
Der Tisch verstummte.
„Nur ein Familienfoto“, lachte Adrian und schob das Handy beiläufig außer Sicht.
„Ja, genau, ein Familienporträt“, grinste der Mann. „Eine Stiefschwester zählt schließlich auch zur Familie.“
Ich neigte den Kopf. „Welches denn? Kann ich es sehen?“
Er räusperte sich, beugte sich zu mir und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du kannst es jetzt noch nicht deutlich sehen. Sobald ich die Ärztin für dich organisiert habe, verspreche ich dir, dass du es dir selbst ansehen kannst.“
Seine Geste war zärtlich, sein Lächeln sanft. Ich lächelte zurück.
„In Ordnung“, sagte ich leise.
Was er nicht wusste: Für unsere Hochzeit hatte ich die Ärztin bereits selbst organisiert. Ich hatte mich der Operation unterzogen, um ihn zu überraschen.
Und jetzt war mein Sehvermögen vollständig wiederhergestellt.
„Elena, iss etwas.“
Er schälte eine Garnele und legte sie auf meinen Teller. Sein Blick war wie immer heilig und sanft.
„Danke.“
Ich schob die Garnele lächelnd beiseite.
„Aber ich habe gerade wirklich keinen Appetit.“
Der Gedanke an diese Hände - Hände, die hinter meinem Rücken so viel Schmutziges getan hatten - ließ mich würgen.
Das Geplauder am Tisch nahm bald wieder Fahrt auf.
„Ich habe gehört, die Hochzeit findet in zwei Tagen auf einem Kreuzfahrtschiff statt.“
„Adrian, das ist so romantisch.“
„Nicht nur romantisch. Er behandelt auch seine Schwester richtig gut.“
Jemand zog das letzte Wort absichtlich in die Länge.
„Geschwisterliebe ist kein Verbrechen.“
Ein Kichern.
„Das hält ihn auch nicht davon ab, ein guter Ehemann zu sein.“
Erneutes Gelächter.
Meine Finger umklammerten den Stiel meines Glases fester.
„Elena, fühlst du dich nicht wohl? Möchtest du an die frische Luft?“
Adrian beugte sich zu mir herunter, sein Atem streifte mein Ohr.
Meine Augen zuckten.
Wie lächerlich. Er betrog mich, ohne zu zögern, und spielte hier immer noch die Rolle des perfekten Verlobten.
„Mir geht's gut.“
Ich sah ihn an. „Dein Handy hat gerade gebrummt. Willst du nicht nachsehen?“
Ein Anflug von Panik huschte über sein Gesicht, doch er fing sich schnell wieder und lächelte.
„Nur die Hochzeitsplanerin. Ich antworte später.“
„Antworte jetzt. Das macht unsere Hochzeit nur noch perfekter.“
Mein Lächeln wurde dünner, denn ich hatte klar erkannt, wer der Absender war.
Cassandra.
