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Kapitel 3.1

2.2

Als ich in den zweiten Stock ging, merkte ich, dass ich nicht aufhören konnte, sie anzuschauen. Sie ging langsam hinter mir her und trat so leise auf, als hätte sie Angst, die Stille im Haus zu stören. Ihr Kleid floss sanft hinter ihr her, ihr langer Zopf lag auf ihrem Rücken und unterstrich ihre Zerbrechlichkeit.

Ich verlangsamte meine Schritte, um ihr die Möglichkeit zu geben, neben mir zu gehen. Ihre ganze Gestalt strahlte Anspannung aus, aber gleichzeitig war ihr Anblick so faszinierend, dass ich meinen Blick nicht von ihr abwenden konnte. Sie sah aus wie eine zarte Porzellanfigur, die bei der kleinsten Bewegung zerbrechen würde. Aber etwas in ihrem Blick, einem kurzen, verstohlenen Blick, den sie mir zuwarf, ließ mich nachdenken: Was für ein Mädchen stand da vor mir?

Langes dunkles Haar, zu einem einfachen Zopf geflochten, unterstrich ihre natürliche Schönheit. Kein auffälliges Make-up, kein protziger Schmuck. Sie war ganz sie selbst, und darin lag ihre Stärke. Sie war so schön, dass es fast unheimlich war. Wie war mir ein solcher Schatz zugefallen?

Wir erreichten den zweiten Stock, und ich deutete nach links. Die linke Seite des Hauses gehörte mir. Ein geräumiges Zimmer mit angrenzendem Wohnzimmer und Arbeitszimmer – hier verbrachte ich die meiste Zeit. Jeder meiner Brüder hatte seinen eigenen Bereich, was es uns ermöglichte, unsere Grenzen zu wahren und dennoch unter einem Dach zu leben.

Sie folgte mir in den Raum, und ich schloss leise die Tür hinter uns. Ich warf einen Blick auf ihr Gesicht, auf die Art, wie sie sich zu sammeln schien. Ihre Hände waren gefesselt, ihre Lippen zitterten leicht. Ich trat einen Schritt näher, um ihr zu helfen, sich wohler zu fühlen, aber ich bemerkte, wie sich ihre Schultern anspannten.

„Das ist dein Zimmer“, sagte ich und zeigte auf den Sessel am Fenster. “Hier kannst du dich sicher fühlen.“

Sie ging langsam zum Sessel und setzte sich, die Hände ordentlich auf den Knien gefaltet. Ich setzte mich ihr gegenüber und versuchte zu verstehen, was gerade in ihrem Kopf vorging. Ihr Blick war nach unten gerichtet, sie wagte es nicht, aufzublicken. Ich sah, wie sie den Stoff ihres Kleides zusammenknüllte, und diese Anspannung übertrug sich auf mich.

Ich beugte mich etwas näher zu ihr, um ihren Blick zu erhaschen.

„Hast du Angst vor mir?“, fragte ich leise.

Sie schüttelte den Kopf, aber ihr Schweigen sprach lauter als alle Worte. Sie hatte Angst. Aber wovor?

Ich streckte meine Hand aus und berührte vorsichtig ihre Handfläche. Ihre Finger zuckten wie die eines Vogels, der jeden Moment davonfliegen will. Sie hob den Blick, kurz, schnell, aber in diesem Blick war etwas, das mich angespannt machte. Angst. Tiefe, echte Angst. Aber ich konnte nicht verstehen, woher sie kam.

„Zumrat“, sagte ich ihren Namen leise, als wollte ich ein wildes Tier beruhigen. “Du kannst mir sagen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.“

Sie wandte ihren Blick ab und ihre Finger drückten leicht meine Hand. Ich spürte, wie sie tief Luft holte, als wollte sie etwas Wichtiges sagen, aber keine Worte finden konnte.

„Ich werde dir nicht wehtun“, fuhr ich fort und bemühte mich, ruhig zu sprechen, um sie nicht noch mehr zu erschrecken. “Die heutige Nacht ist nur der Anfang. Ich möchte, dass du dich sicher fühlst.“

Ihre Lippen zitterten leicht, als wollte sie etwas erwidern, aber dann schwieg sie wieder. Ich sah, wie die Anspannung langsam in Wellen über sie hinwegrollte. Etwas in ihr kämpfte gegen dieses Schweigen, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Da riss sie plötzlich ihre Hand aus meiner. Ich sah überrascht auf und verstand nicht, was diese Reaktion ausgelöst hatte. Ihre Augen waren voller Angst. Sie presste ihre Handflächen gegen ihre Brust, als würde sie sich vor etwas Unsichtbarem schützen.

„Zumrat?“, fragte ich leise.

Sie sah zu mir auf, und ich erstarrte. In ihrem Blick lag so viel Schmerz, dass sich mir der Magen umdrehte. Ich öffnete den Mund, um zu fragen, was los sei, aber sie kam mir zuvor.

„Ich muss Ihnen etwas sagen“, sagte sie mit leiser, aber vor Anspannung zitternder Stimme. Sie holte tief Luft, als würde sie sich auf etwas Schreckliches vorbereiten. “Aber Sie müssen mir zuhören.“

Ihre Worte hingen in der Luft. Ich rührte mich nicht und wartete darauf, dass sie weiterredete. Aber stattdessen verstummte sie wieder und ihr Blick huschte zwischen mir und dem Boden hin und her, als würde sie nach der Kraft suchen, weiterzusprechen. In diesem Moment wurde mir klar: Ihre Angst hatte einen Grund. Und dieser Grund könnte alles verändern.

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