4 - Alamea
„Sie müssten aufstehen, Alamea." Müde öffne ich ein Auge, nur um Nevans kleines, rundes Gesicht direkt vor mir wieder zu finden. Schnell reibe ich mein anderes Auge, weil es sich doch so verklebt anfühlt. „Ist es schon so spät?" Frage ich und gähne kurz. Er lacht leise. „Ich befürchte schon." Das Wort ‚befürchten' habe ich ihm beigebracht. Erstaunt sehe ich ihn an. „Das hast du richtig verwendet." Er grinst stolz. „Danke. Ich habe geübt." Glücklich setze ich mich auf und strecke meine Arme in die Luft. Die Sonne scheint schon hell durch das große Fenster rein und tönt den Raum in ein orangenes Gold.
Wir stehen immer zur Morgenröte auf. Schlafen von 1 bis 5. Für Naida ist das genau richtig. Für mich ein kleines bisschen zu wenig. Deswegen halte ich später noch einen kleinen Mittagsschlaf. „Hast du deine Haare geschnitten, Nevan?" Frage ich überrascht. Sie sind weiß-blau und hingen ihm sonst immer bis runter auf die Schultern. Jetzt hat er aber so einen Pilzschnitt und sie gehen ihm nur noch bis zum Kinn. Nevan nickt mit einem sanften Lächelnd auf den Lippen. „Frau Valencia hat sie mir geschnitten." Aaach! Genervt rolle ich mit den Augen. Die blöde Schnepfe.
„Fehlen sie dir?" Frage ich also. Es ist ein bisschen schwieriger für mich einfühlsam zu sein als es für sie ist, aber ich übe es. „Erst haben sie das, aber jetzt gefällt es mir schon." Ilaris können nicht lügen, aber sie versuchen mit Halbwahrheiten davon zu kommen. Sie fehlen ihm sicher immer noch. Er akzeptiert nur die Veränderung. „Okay." Lüge ich und stehe dann vom Bett auf. „Guten Morgen, guten Morgen!" ruft jemand. Ich zeige Nevans an, dass er gehen kann. Es ist nicht gut, wenn Ilaris mit Naida zusammen kommen. Mit einem dankbaren nicken verlässt er den Raum. Gerade rechtzeitig bevor mein lieber Bruder durch die andere Tür herein spaziert. „Guten Morgen, Martell." Sage ich weniger begeistert. Ich freue mich trotzdem ihm zu sehen. Auch wenn er nur mein Halbbruder ist, gehört er zur Familie.
Er kommt zu mir und bevor ich verstehe was er vor hat, schleudert er schon seine grünen Haare hin und her und spritz mich voller Seewasser. „Ey." Rufe ich als er sich dann auch noch auf mein Bett fallen lässt. Erschöpft streiche ich das Wasser von meinem Gesicht. Er lacht, als er mich ansieht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich lilane Striemen auf meinem Gesicht habe. Das Seewasser ist voller Gift und meine Haut tut zwar nicht weh, wenn es sie berührt, aber sie verfärbt sich für ein paar Sekunden während sie heilt. Meine Hände sind jetzt auch teilweise hell lila. Genervt sehe ich zu ihm hoch. „Musst du das immer machen?" Er nickt zufrieden und reibt seine Haare an meiner Matratze trocken.
Es ist normalerweise die Aufgabe meiner Diener mein Bett zu wechseln, aber heute muss ich das wohl wieder selbst machen. Die Diener in unserem Haus sind alle Ilaris und verbrennen sich die Haut, wenn sie das Seewasser anfassen. Es tut ihnen nicht besonders weh, aber es ist ihnen unangenehm. Als Halbblut bin ich ein bisschen Immuner gegen das Gift und erspare ihnen die Kraft, die sie durch die Heilung verlieren. „Kommst du heute mit zum schwimmen, Weißschopf?" Fragt Martell und blickt aus seinen roten Augen wieder zu mir rauf. Hat jetzt die Hände hinter dem Kopf. „Damit ich wieder lila werde und ihr mich auslachen könnt? Nein, danke." Er schmunzelt leicht und dreht sich auf die Seite. Seine langen Haare fallen ihm den Hals herunter. Sie sind ein schönes Grün, fast dunkel blau und er pflegt sie gut. „Du siehst süß aus, wenn du ‚danke' sagst."
Ich greife einfach nach einem Kissen und schlage ihm mitten auf sein Sommersprossiges Gesicht. Seine Sommersprossen sind auch rot. Genau wie meine. Er macht sich immer darüber lustig, dass ich halb Ilaris bin. Ich achte kaum darauf was ich sage. Es fällt mir nur auf, dass ich anders spreche, wenn ich seine Worte wiederhole und mich bei manchen Sätzen nicht wohl fühle. Sachen wie: ‚List', ‚Verrat' und ‚Betrug' machen mich nervös, während sie für ihn zum Alltag gehören. Worte wie ‚Hoffnung', ‚Glück' und ‚Moral' gehören zu denen, die er nicht leiden kann, die ich aber oft verwende.
Martell und ich haben die gleiche Mutter, aber er nennt sie nicht so. Er nennt sie Königin. Ich finde das übertrieben, aber habe mich damit abgefunden, dass man so gennant wird, wenn man Kinder hat. Meine Mutter heißt Seena. As bedeutet Fluss und passt sehr schön zu ihr. Martell wurde von ihr benannt und heißt deswegen ‚unbezwingbar'. Mich hat mein Vater benannt. Ich kenne ihn leider nicht, weil er kurz nachdem er mich erschaffen hatte nicht mehr im Bilde war. Ich weiß nicht was mit ihm passiert ist, nur dass meine Mutter ihn geliebt hat und sie das für peinlich hält. Jaja, die guten Naida, die Ilara für schwach halten.
Ich nehm's meiner Mutter nicht übel. Sie meint das nicht so. ‚Alamea' bedeutet jedenfalls ‚wertvoll, vollendet' und das gefällt mir sehr. Es ist ein liebevoller Name und weil er nicht zu sehr nach Ilaria klingt, durfte ich ihn sogar behalten. Meine Mutter streitet immer ab, dass sie meinen Vater geliebt hat, aber wäre es nicht so, dann hätte sie mich sicher nicht behalten und würde mich nicht genauso behandeln wie ihre anderen Kinder. Und mein Bruder? Naida sind nicht so gut darinnen andere zu lieben, aber Martell und ich verstehen uns gut. Ich liebe ihn wirklich und er akzeptiert mich genauso wie die anderen. Für Naida ist Akzeptanz etwas ganz großes. Ich sage mir immer, dass es ihre Art von Liebe ist, aber Nevan und ich wissen, dass es schlecht vergleichbar ist.
Nevan ist mein Lieblings Diener. Er ist noch sehr jung. Erst 27. Für Naida ist das nicht jung, sondern recht reif und für Nicoli ist das als wäre er schon 60 in Naida Jahren. Es ist nicht leicht zu erklären. Für Ilaria ist es jedenfalls sehr jung. Nevan ist sehr kindlich und noch unschuldiger als die meisten Ilaria. Ich bin 19. Das heißt, dass ich für Naida schon Mutter werden könnte und für Ilaris wäre ich gerade mal bereit alleine raus zu gehen. Komisch oder? Was das für Nicoli bedeutet weiß ich nicht genau. Vielleicht dürfte ich zum ersten Mal jemanden umbringen? Nein, das machen die schon früher oder? Puh, ich will gar nicht dran denken.
Meine Familie und ich leben auf einem Berg. Unser Haus ist direkt an einer Klippe, wenn ich raus sehe, sehe ich nur Ozean. Ich kann Kilometerweit nur blau und grün erblicken und ganz, ganz viel Himmel. Alle meine Geschwister haben Zimmer weiter unten im Berg, da wo das Quellwasser ihre Zimmer füllen kann. Es ist dunkel dort und feucht. weil ich halb Ilaris bin kann ich dort nicht leben. Ich beziehe meine Energie teilweise aus der Sonne und brauche deswegen ganz viel Licht. Besonders das vom Morgen. Deswegen habe ich so ein großes Fenster. Es ist leicht eingetönt, weil meine Mutter mir kein klares erlaubt hat, aber das ist okay. So viel Licht wie die Ilaria brauche ich ja nicht. Nevans Name bedeutet übrigens ‚kleiner Sankt'. Die Ilaris sind nämlich gläubig. Ich bin es nicht.
„Kommst du mit runter?" Fragt mein Bruder neben mir. „Ich muss mich erst anziehen." Sage ich und zeige an mir runter. Über meiner Schnee weißen Haut liegt ein rotes Kleid. Es hat schwarze Spitze an den Bordüren und knittert ein bisschen. „Haare kämmen würde ich erstmal vorschlagen." Erschrocken springe ich auf und sehe in den Spiegel. Unglaublich! Nevan ist manchmal echt viel zu nett! Sagt mir einfach nicht, wenn ich so schlimm aussehe! „Ich seh dich unten." Kommt nur noch von mir bevor ich ins Bad sprinte. Bereit für mein Morgendliches Bad in Algen und Rosenblättern.
