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Kapitel 1 - Heißer Kaffee

Ich habe aufgehört, zu zählen.

Aufgehört, die Jahre zu zählen, die ich nun schon auf dieser Erde lebe. Ich erinnere mich an so vieles und mindestens genauso viel habe ich vergessen. Zahlreiche Gesichter konnte ich in dieser Zeit sehen, so viele Stimmen hören und Unmengen an Menschen habe ich kennengelernt.

So viele habe ich sterben sehen, einfach gehen sehen.

Die Lebenszeit der Menschen ist begrenzt, so kurz. Sie werden geboren, wachsen auf, werden alt und sterben. Sie haben nicht viel Zeit, sie leben so schnell. Und mittendrin bin ich und sehe zu, wie ihre Zeit vergeht.

Ich hatte viele Freunde über die Jahre und sie alle habe ich bis zu ihrem Todestag begleitet.

Und jetzt stehe ich hier zwischen all diesen Leuten, denen nicht einmal hundert Jahre bleiben und warte darauf, dass der Angestellte bei Starbucks meinen Kaffee fertigstellt und einen Namen auf den Becher schreibt, den ich mir vor einigen Jahren neu zugelegt habe.

Das Problem dabei, wenn man unsterblich ist, ist, dass die Leute irgendwann misstrauisch werden.

Sie bekommen Falten, graue Haare und fragen sich, wieso für mich keine Zeit zu vergehen scheint.

An sich ist es für mich kein Problem, einfach rechtzeitig zu gehen und neu anzufangen, aber oftmals mag ich die Orte, an denen ich bis dahin gelebt habe. Meistens gefällt es mir dort gut. Und dann muss ich gehen.

Vor ein paar tausend Jahren war es so viel einfacher.

Mit einem Seufzen fahre ich mir durch das kurzgeschnittene Haar und wünsche mir, nicht immer wieder alles neu miterleben zu müssen.

Aber genug des Selbstmitleids, das ist doch erbärmlich. Ich muss mich zusammenreißen.

Mein Name wird aufgerufen - und wie immer falsch. Kurzerhand hole ich mir meinen Kaffee ab und verlasse den Laden.

Mit einem weiteren Seufzen nehme ich einen großen Schluck.

Und spucke ihn fast sofort wieder aus.

In all den Jahren habe ich es immer noch nicht gelernt: Frischer Kaffee ist heiß.

Wann ich das wohl in meinen Schädel bekomme...

Ich lasse mich auf eine schmale Bank an der Straße fallen und stelle den Becher neben mich auf die Sitzfläche. Abkühlen lassen.

Eigentlich mag ich gar keine Heißgetränke, aber Kaffee habe ich gerade bitter nötig. Denn ich bin müde. Meine Nächte sind seit langer Zeit viel zu kurz und meine Tage viel zu lang. Das liegt nicht daran, dass ich den Clubs und den nächtlichen Straßen fröne, sondern dass ich versuche, mein Schicksal zu verstehen.

Du glaubst nicht an Schicksal?

Solltest du. Denn es gibt es und es ist ein wahres Arschloch. Verzeih mir den Ausdruck, anders kann ich es nicht beschreiben. Vielleicht ist das Ganze hier ja einfach meine Strafe dafür, dass ich in den Anfängen der Menschheit ein wenig herumgespielt habe. Sie haben mir sogar Namen gegeben, so viele, dass ich aufgehört habe zu zählen. Ich kenne sie nicht einmal selbst alle.

Langsam nehme ich den Becher wieder in die Hand und nehme den Deckel ab. Misstrauisch beäuge ich das braune Gesöff im Gefäß. Ist es jetzt ungefährlich oder brenne ich mir wieder die Mundhöhle aus, wenn ich jetzt davon trinke?

Probeweise nehme ich noch einen Schluck. Mir treten die Tränen in die Augen.

Es ist definitiv noch zu heiß.

Das werde ich noch mindestens zwei Tage lang spüren dürfen, fürchte ich.

Missmutig stelle ich den Becher wieder ab und richte den Blick auf die Straße, während meine arme, gefolterte Zunge pocht. Aua.

Die Menschen sind hektisch unterwegs. Einige kommen wohl zu spät zur Arbeit, einige andere wollen wohl nach Hause. Ich weiß es nicht.

Einige Autos warten vor der roten Ampel mir gegenüber, einige der Fahrer wirken genervt. In einem der Autos sitzt eine Familie. Ihrer Mimik nach streiten sie sich. Hinten, auf der Rückbank, sitzt ein Kind, keine sieben Jahre alt und hält sich die Ohren zu. Es wirkt traurig. Ich gestatte mir einen kurzen Moment des Mitleids. Die Eltern werden nicht mehr lange zusammenbleiben, sowas habe ich oft gesehen. Das Kind wird darunter leiden und vermutlich ewig geschädigt sein, aber auf seine Art und Weise damit umzugehen lernen.

Das ist immer so.

Auch, wenn ihre Leben kurz sind, können sie manchmal überraschend viel wegstecken. Aber dafür bauen sie in dieser kurzen Zeit auch überraschend viel Scheiße.

Ich schnaube angewidert. Es ist eine Hassliebe zwischen den Menschen und mir. Ich kann nicht mit ihnen, aber irgendwie kann ich auch nicht ohne sie.

Die Ampel schaltet von rot auf orange und schließlich zu grün. Die Motoren einiger Autos jaulen auf und die ersten von ihnen schießen über die Kreuzung.

Das streitende Paar bemerkt erst, als einige hinter ihnen zu hupen beginnen, dass sie fahren können. Der Vater tritt ordentlich aufs Gaspedal und der Wagen rast über die Fahrbahn.

Irgendetwas ist schief gelaufen. Ich sehe es wie in Zeitlupe. Ein anderer Wagen in einem metallischen Aquamarinblau kann nicht mehr ausweichen. Es kommt zur Kollision.

Der Knall ist vermutlich noch viele Straßen weiter zu hören.

Fast schon teilnahmslos sehe ich zu, wie Glas splittert, Airbags sich aufblähen, Leute anfangen zu schreien.

Der Fahrer des blauen Wagens ist sofort tot. Immerhin musste er nicht leiden. Mein Blick wandert zum Auto der Familie. Die Mutter hängt in einer ungesunden Position im Gurt, ihre Augen sind offen und starren ins Nichts. Ihr Kopf hängt in einem schrecklichen Winkel zur Seite. Blut rinnt über ihre Stirn. Auch sie hat es nicht überlebt.

Der Vater atmet nur flach. Auch er blutet am Kopf. Ich kann es nicht gut beurteilen, aber einige Rippen sind ziemlich sicher gebrochen. Wenn keine lebenswichtigen Organe beschädigt wurden, wird er es überleben.

Mein Blick huscht weiter zum Rücksitz. Das kleine Kind, ein Mädchen wohlgemerkt, hat die Augen geschlossen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich noch ein, zwei mal, dann ist es vorbei.

Langsam wende ich den Blick ab und stehe auf.

Die Leute schreien durcheinander und in der Ferne höre ich Sirenen.

Ich würde gerne etwas tun, aber ich kann es nicht.

Es mag hart sein, aber das ist der Lauf der Dinge. Auch ein Gott kann das Schicksal nicht nach Belieben verändern, so funktioniert das nicht.

Aus dem Augenwinkel kann ich eine dunkle Gestalt erkennen, die neben den Autos steht und eine schmale, geschwungene Sense hebt.

Er ist bereits hier.

Es war zu spät, ich hätte nichts mehr tun können, rede ich mir ein. Es tut immer wieder weh, so eine Tragödie mit anzusehen und noch mehr, niemandem helfen zu können.

Sie gehörten schon lange ihm und dagegen kann selbst ich nichts machen.

"Es tut mir leid", flüstere ich. Immerhin ging es schnell.

Meine Sicht verschwimmt.

Egal, wie lange ich schon hier bin, der Tod ist jedes Mal schrecklich anzusehen, auch wenn er notwendig ist.

Das ist mir klar.

Trotzdem.

Hastig wische ich mir mit dem Handrücken über die Augen und wende mich vollständig ab.

Ich muss hier weg.

Wieso musste das passieren?

Ich sagte es ja. Das Schicksal ist ein Arschloch, nicht nur meines. Auch das aller anderen.

Mit schnellen Schritten gehe ich los, fliehe von diesem Ort. Mir ist schlecht.

Doch ich komme nicht weit, denn nach wenigen Schritten pralle ich gegen irgendetwas Weiches und höre ein leises "Aua".

Erschrocken sehe ich auf und blicke in ein paar dunkelgrüner Augen, die mich mit einer Mischung aus Vorwurf und Besorgnis ansehen.

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