Kapitel 6
In der neunten Klasse forderte mich eine Gruppe von den beliebten Mädchen auf, den Beamer aus dem Klassenraum zu klauen, damit wir die Vorträge nicht halten mussten. Leider erwischte mich meine Deutschlehrerin und ich musste einen Monat nachsitzen. Den Blick der Lehrerin hatte ich nie vergessen. Sie war so wütend gewesen, dass sie mir nie wieder eine gute Note in Deutsch gab. Mit diesen ungläubigen wütenden Blick sah mich jeder einzelne von diesen Flügel-Menschen an. Ich versuchte es mir wirklich nicht anmerken zulassen, wie sehr sie mich einschüchterten, aber wie ein Reflex zogen sich meine hellen Flügel schützend um mich. Schon komisch, dass ich diese Flügel erst seit Kurzem hatte, sie aber schon benutzte, als wären sie immer da gewesen.
Krampfhaft schlug ich meine Augen jedes Mal nieder, wenn ich den Blick von einen von ihnen begegnete.
„Folge mir" sprach der alte Mann plötzlich etwas lauter, es war nämlich sonst unmöglich, ein Wort zu verstehen. Gehorsam lief ich hinter ihn her, was einfacher dann gedacht war. Jedes Mal, wenn ich ein Schritt setzte, wichen die Flügel-Männer mir aus, als hätte ich die Pest. So kamen wir ziemlich schnell zum anderen Ende der Halle und ich konnte erkennen, dass sich eine kleine Bühne dort befand. Der alte Mann betrat die etwa ein Meter hohe Plattform und ich konnte nichts anderes, als ihm zu folgen.
Aus einer der Flure, der sich direkt mit der Bühne verband, trat ein Flügel-Mann. Er schien etwa um die vierzig zu sein, was ich den einzelnen grauen Strähnchen ermittelte. Haare färben schien hier wohl keiner zu machen.
Seine Statur trotzte nur so vor Muskeln und Standhaftigkeit, auch ohne das es mir irgendwer sagte, wusste ich, dass er der Anführer war. Er stellte sich neben den alten Mann, ich folgte seinem Beispiel und drehte mich mit dem Gesicht zu den wütenden Blicken. Der Anführer räusperte sich einmal laut. Nicht, dass es nötig war, denn in dem Moment, als er die Bühne betreten hatte, war es bereits leise geworden. „Meine Krieger" hallte seine dunkle Stimme durch die riesige Halle. Gute Akustik. „So, wie es euch bereits bekannt ist, wurde vor zwei Tagen etwas aufgefunden, dessen Existenz wir immer angezweifelt haben" Entgegen meinen Erwartungen blieb es mucksmäuschenstill und jeder von ihnen hing an den Lippen des Anführers.
Warte mal.
Vor zwei Tagen? Ich war erst vor ein paar Stunden im Wald wach geworden, es war gar nicht möglich, dass ich zwei Tage lang nur geschlafen hatte. Ich konnte mich zwar nicht mehr erinnern, was ich im Wald gemacht hatte, aber niemals hatte ich dort zwei Tage gelegen. Gerade wollte ich den alten Mann unauffällig fragen, was er davon hielt, als der Anführer seine Stimme wieder hob. „Eine weibliche Luftigen" jetzt brach es los. Ein lautes Murmeln breitete sich wie ein Lauffeuer unter den Männern aus und ich sah viele empört miteinander diskutieren. Dass diese Negativität gegen mich gerichtet war, konnte wohl jeder Blinde sehen und ich begann unruhig von einem Fuß auf den nächsten zu treten. Was war überhaupt ein Luftigen?
Während der alte Mann versuchte, die Menge dazu zu bringen, sich wieder zu beruhigen, schrie ein großer Flügel-Mann direkt vor mir „es gibt keine weibliche Luftigen! Das weiß doch jeder!". Ich konnte nicht verhindern zurückzuzucken. Der Mann sah so aus, als würde es gleich auf die Bühne stürmen und meinen Kopf abreißen wollen. Bevor der Anführer oder der alte Mann die Menge beruhigen konnte, schrie einer weiter hinten „Genau! Ich sagte, sie ist ein Schatten!". Die Männer brüllten zustimmend. Unsicher trat ich noch einen Schritt zurück, als das Anführer plötzlich laut rief „Haltet alle mal den Mund!!".
Mürrisch hörten die aufgebrachten Männer auf und bis auf ein paar Flüsterstimmen wurde es wieder ganz ruhig. „Leon hat es getestet und die Blutwerte sind eindeutig" er machte eine Handbewegung zu dem alten Mann. Meine Frage zu wie er hieß, war damit auch geklärt. „Ja ... ihr wisst, dass Menschen, Luftigen und Schatten ganz verschieden sind. Und ihre DNA sowie ihre Blutwerte zeigten, dass sie eine Luftigen ist" stammelte Leon nervös. Jetzt fing das Geschrei wieder an. Ganz außer sich schrie jeder von ihnen durcheinander und zeigten beschuldigend auf mich. Diesen Moment nutzte ich aus, um Leo ein paar Fragen zu stellen „Ihr habt Blut abgenommen, ohne zu fragen?!" Schnaubte ich wütend. Leon sah zu mir und schien fast eine Herzattacke zu bekommen. „Äh, es war nötig und wir wussten nicht, wie du reagieren würdest", flüsterte er leise zurück. Empört stampfte ich mit den Fuß auf. Eine Angewohnheit, die ich nie ablegen konnte. Jetzt reichts.
„Haltet alle mal die Klappe!" Schrie ich jetzt durch den Raum. Tatsächlich klappte es und die Männer verstummten. Als keiner mehr was sagte, machte ich denen mal ganz deutlich, was von dem Ganzen hielt.
„Erst entführt ihr mich gegen meinen Willen, dann haltet ihr mich zwei Tage lang gefangen und führt Tests an mir durch, zu denen ich nie zugestimmt habe?!" Ich ignorierte ihre ungläubigen Blicke, jetzt legte ich erst richtig los. „Außerdem gibt ihr mir die Schuld für etwas, was ich gar nicht wollte!", ich zeigte auf die Flügel hinter mir. „Es ist ja wohl nicht meine Schuld, dass mir über Nacht diese Dinger gewachsen sind! Und wenn ihr noch einmal Blut von mir abnimmt oder andere Tests durchführt ohne mein Einverständnis, könnt ihr euch auf was gefasst machen!" Den letzten Teil richtete ich an Leon. Soll er ruhig wissen, was ich von seinen Taten hielt.
Es war so ruhig geworden, dass eine erdrückende Stille herrschte. Etwas ruhiger fuhr ich fort „Es ist mir so was von egal, was ihr denkt was ich bin. Ich will einfach nur nach Hause", jetzt klang ich einfach nur erschöpft und so fühlte ich mich auch. Ich war müde, mein Kopf brummte wegen den ganzen Stress und ich hatte immer noch eine Menge Hunger. Den Moment der Stille schien der Anführer zu nutzen und in der gleichen Lautstärke richtete er sich endlich mal an mich.
„Es tut mir leid, was dir passiert ist, es muss sehr stressig für dich gewesen sein. Bitte verstehe aber unsere Sorgen, es hat noch nie etwas wie dich gegeben. Wie versuchen einfach das Beste aus der Situation zu machen", das waren die nettesten Worte, die ich in den letzten paar Stunden gehört hatte. Leider löste es mein Problem immer noch nicht. Ich seufzte noch einmal müde „Könnt ihr mich nicht einfach wieder nach Hause lassen?" Flehend sah ich den Anführer an.
Er richtete sich ein wenig auf und fuhr lauter fort „Da du eindeutig kein Mensch bist, können wir dich nicht so einfach wieder zurückkehren lassen ...". „Aber ..." setzte ich schon an, doch er unterbrach mich schnell. „Du hast also die Wahl. Entweder du darfst gehen, aber dich nie einem Menschen zeigen und dein Leben mit Einsamkeit füllen, oder du bleibst hier. Wirst zu einer echten Luftigen und unterstehst unseren Regeln", das waren meine Möglichkeiten? Ich wollte nach Hause und nicht für immer in dieser Höhle gefangen sein. Ich bemerkte die Tränen erst, als sie mir über die Wangen flossen. „Bitte, ich kann nicht hier bleiben. Meine Familie würde sich unglaublich viele Sorgen machen", flüsterte ich erstickt. Der Anführer schien echt mit mir überfordert zu sein. Er räusperte sich unangenehm und auch die anderen Flügel-Männer schwiegen erstaunlicherweise
Mein Schluchzen wurde immer lauter und die Geräusche erfüllten die Höhle. „Du bekommst zwei Tage, um eine Entscheidung zu treffen. Ich teile dir jemand zu, der dir alles zeigt und dann musst du dich entscheiden" ich nickte nur noch ergeben. Ich hatte keine andere Wahl.
