Kapitel 3
Wenn man mir nicht die Hälfte meiner Lunge entfernte, hätte ich nur noch wenige Monate zu leben gehabt.
Doch selbst mit einer halben Lunge, wie lange würde ich überhaupt durchhalten?
Mit dem Diagnosebericht in der Hand überlegte ich, ob ich es meinen Eltern sagen sollte.
Doch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, riefen sie mich überraschend an und baten mich, nach Hause zu kommen.
Seit vier Jahren war es das erste Mal, dass sie mich aktiv zu sich riefen.
Ich war überglücklich und dachte naiv, sie hätten endlich wieder an mich gedacht.
Ich hätte nie erwartet, dass ihr erstes Wort an mich war, dass ich mich scheiden lassen müsse.
Und dass ich meinen eigenen Ehemann an meine Schwester abtreten solle.
Als ich die drei Personen vor mir ansah, kam mir alles nur noch fremd vor.
Meine Eltern hatten mich in meiner Kindheit durchaus geliebt.
Aber ab irgendeinem Zeitpunkt hatte sich alles verändert.
Als ich Lisas spöttisches Gesicht sah, wurde mir plötzlich klar:
Alles hatte sich an dem Tag verändert, an dem sie geboren wurde.
Seitdem existierte in den Augen meiner Eltern nur noch Lisa.
Ich war für sie unsichtbar geworden, ein überflüssiger Fremdkörper im eigenen Zuhause.
Zu Hause musste ich immer nachgeben.
Alles, was ich hatte, bekam sie auch.
Und vieles von dem, was sie hatte, bekam ich niemals.
Wenn meine Schwester hinfiel, war ich diejenige, die geschlagen wurde.
Wenn sie Mist baute, war ich es ebenfalls, die Prügel kassierte.
Dinge, die sie nicht mochte, warf sie mir wie Müll hin, aber alles, was ich mochte, wurde von ihr weggeschnappt oder zerstört.
Sie bekam die Liebe unserer Eltern ohne jede Mühe; ich hingegen musste mich mit aller Kraft abstrampeln, nur um ein halbherziges Lob zu ergattern.
Meine Schwester war als Kind so süß und unschuldig gewesen.
Ich hatte immer Angst, sie könnte sich weh tun.
Ich wusste gar nicht mehr, wie oft ich in dieser Zeit ihren Sturz abgefangen und als menschliches Kissen gedient hatte.
Und jedes Mal, wenn ich ihr niedliches kleines Gesicht ansah, war es mir egal, wie sehr mein Körper schmerzte.
Schließlich war sie meine Schwester.
Ich hätte nie gedacht, dass dieses engelsgleiche Kind eines Tages zu einem Dämon heranwachsen würde.
Ihr Glück beruhte vollkommen auf meinem Schmerz.
Sie wusste genau, wie sehr ich mir die Liebe unserer Eltern wünschte, also nahm sie sie mir mit kaum einer Mühe weg.
Sie wusste, dass ich mich nach Freiheit sehnte, und schob mich dennoch ohne Zögern in den Abgrund namens Familie Brockhaus.
Als ich die Menschen, mit denen ich über zwanzig Jahre lang gelebt hatte, anblickte, wurde ich zum ersten Mal hysterisch.
"Warum? Warum behandelt ihr mich so?"
"Warum musste ich an ihrer Stelle heiraten, nur weil sie nicht wollte?"
"Warum soll ich mich scheiden lassen, nur weil Sven wieder sehen kann?"
"Wenn ihr mich damals unbedingt dorthin schicken wolltet, warum bin ich jetzt plötzlich nicht würdig genug?"
Klatsch!
Mein Vater verpasste mir eine so heftige Ohrfeige, dass ich zu Boden stürzte.
"Viviane! Vergiss nicht, wer dich großgezogen hat, wer dein Studium bezahlt hat! Ich habe dich nicht großgezogen, damit du mir widersprichst!"
Lisa lächelte schadenfroh.
Meine Mutter zögerte kurz, sagte aber trotzdem:
"Viviane ... Sven mag dich doch gar nicht.
Warum lässt du sie nicht einfach zusammen sein?"
